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Archiv-Artikel

Hamburger Volksparteien düpiert

Volksinitiative setzt neues Bürgerschaftswahlrecht durch. Vorschlag von CDU und SPD nach dem Modell des Bundestagswahlrechts wird abgewatscht. Großparteien entsetzt: Sie kriegen für ihre Kandidaten weniger Listenplätze

AUS HAMBURG GERNOT KNÖDLER

Die Hamburger sind am Sonntag ihrem Ruf, politisch experimentierfreudig zu sein, einmal mehr gerecht geworden. Mit großer Mehrheit stimmten sie für einen Wahlrechtsentwurf der Volksinitiative „Mehr Bürgerrechte“. Danach dürfen mehrere Stimmen beliebig auf verschiedene Kandidaten und Parteien verteilt werden – ein Novum unter den Wahlvorschriften für die deutschen Landesparlamente.

CDU und SPD hatten alternativ für ein Wahlrecht nach dem Muster des Bundestagswahlrechts geworben. Grüne und FDP hatten den Vorschlag der Initiative unterstützt. „Das ist eine politische Revolution“, kommentierte der grüne Verfassungsexperte Farid Müller.

Für die Hamburger WählerInnen bedeutet das neue Wahlrecht einen großen Sprung. Der Stadtstaat wird in 17 Wahlkreise eingeteilt, nur noch 50 von 121 Abgeordneten werden über die Landesliste ihrer Partei in die Bürgerschaft einziehen. Statt nur eine Stimme wie bisher oder zwei Stimmen wie bei der Bundestagswahl werden die Hamburger künftig bis zu zehn Stimmen zu vergeben haben.

Fünf Stimmen können sie den Kandidaten auf den Landeslisten geben, drei bis fünf, je nach Größe des Gebiets, den Kandidaten ihres Wahlkreises. Dabei können sie die Stimmen beliebig auf Abgeordnete auch unterschiedlicher Parteien verteilen (panaschieren) oder häufeln (kumulieren) – ein Verfahren, das bisher nur bei Kommunalwahlen etwa in Bayern oder Baden-Württemberg vorgesehen war.

Bei der Volksabstimmung parallel zur Europawahl entschieden sich 66,5 Prozent der WählerInnen für das Wahlrecht der Volksinitiative, 53,9 Prozent für den Gegenentwurf. Angesichts der geringen Wahlbeteiligung von nur 36 Prozent blieb lange offen, ob das vorgeschriebene Quorum von mindestens einem Fünftel der Wahlberechtigten (242.987 Stimmen) erreicht würde. Am Ende waren es mehr als 253.000 Jastimmen.

Die Fraktionschefs von CDU und SPD, Bernd Reinert und Michael Neumann, malten die politische Zukunft der Hansestadt am Wahlabend in düsteren Farben. Man werde vor der nächsten Bürgerschaftswahl viel Aufklärungsarbeit zu leisten haben, „damit die Wahlbeteiligung nicht sinkt“, prognostizierte Reinert. Bürgermeister Ole von Beust (CDU) hatte sich in der gähnend leeren Wahlzentrale im Rathaus erst gar nicht blicken lassen. SPD-Fraktionschef Neumann sprach von einer besonderen Herausforderung für die Politiker und unkte: „Für die Initiative ist es ein wunderbarer Tag, für Hamburg eher ein trauriger.“

„Nie wieder soll jemand sagen: Man kann als BürgerIn in der Politik nichts bewegen“, erklärte die Sprecherin der Initiative, Angelika Gardiner. Die Entscheidung habe „Beispielcharakter für die ganze Republik“. Der Entwurf war bewusst so ausgetüftelt worden, dass er als Vorbild gelten kann. Aus anderen Bundesländern seien bereits Anfragen gekommen, sagte Gardiner. Die Volksinitiative war vom Bundesverband „Mehr Demokratie“ unterstützt worden.