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Hamburger Szene von Jean-Philipp BaeckKomplexe akustische Kastration

„Auch der Dirigent war an diesem Tag seiner akustischen Potenz beraubt“

Da fährt man einmal in einem Autokorso mit und dann das: Eigentlich halte ich nichts von dieser Art der Demonstration, weil sie mich an die enthemmten Massen von Fußballweltmeisterschaften erinnert. Aber an diesem Dienstag ging es um Solidarität mit Deniz Yücel, unserem ehemaligen taz-Kollegen, der in der Türkei im Knast sitzt. Kann man mitfahren, dachte ich. Sollte man sogar. Wie es sich nun allerdings für den durchschnittlichen Ideal-Redakteur der taz gehört, habe ich kein eigenes Auto, sondern muss mir eins leihen.

Carsharing. Weil ich spät dran bin, bleibt mir aber nur der Opel-Combo, diese Familienkutsche mit aufrechten Oma-Sitzen. Was soll’s, dachte ich mir. Was soll’s. Nicht bedacht hatte ich: Autos sind Männlichkeitsverlängerungen. Nicht geahnt hatte ich: dass die Hupe streiken würde. Gerade, als ich allmachtsphantastisch in Kolonne rote Ampeln überfahre und es den empörten Fußgängern zeigen will, lallt statt schallt es aus dem Motorraum. Aus dem mächtigen Trööten wird ein Mööpen, bis nach einem Ton, der eher wie das Schnurren eines neugeborenen Kätzchens klingt, die Hupe aus ist. Ich hämmere auf das Lenkrad, aber es hilft nichts.

Schnitt. Am gleichen Tag, abends, im Großen Saal der Elbphilharmonie. In dieser Gebärmutter-artigen Höhle des Wohlklangs sollte „Curlew River“, eine der Kirchenparabeln von Benjamin Britten, konzertant erklingen und tat es auch zunächst: mit dem Auftritt der „Britten Sinfonia Voices“, die als Mönche durch die Gänge entlang der Weißen Haut auf die Bühne prozessierten und sich hinter den Musikern zu einem Ensemble arrangierten. „Te lucis ante terminum, Rerum Creator“ und so weiter sangen sie ihren gregorianischen Choral zu Auftakt. Es folgt Trommelwirbel und die Verkündigung des Abtes, begleitet vom Pfeifen einer Orgel – eigentlich. Doch zu den Ohren der über 2.000 Besucher des voll besetzten Hauses klang: nichts. Kein Akkord, kein Mucks, kein Orgeltönchen. Dirigent und Organist Martin Fitzpatrick stockte.

Klein sah er aus, da unten auf der Bühne, getroffen, abgeschlafft. „Entschuldigen Sie“, sagte er zum Publikum, den Blick sodann flehend Richtung Bühnentechniker wendend. Das Schütteln seines Kopfes ließ es auch auf den hintersten Plätzen erahnen: Auch Fitzpatrick, der Dirigent, war an diesem Tag seiner akustischen Potenz beraubt, des Tonstrahls, der durch die Saalwölbungen hätte stoßen sollen. Doch ließ sich hier auf gleiche Weise nachhelfen, wie auch die meisten Computerprobleme sich lösen lassen: durch Betätigung des Stromschalters. Mindestens dessen soll Fitzpatrick sich sicher sein: Dass er mit seinem Problem an dem Tag nicht allein war.

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