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Hamburg wegen Pflegekind unter DruckStreit um Zirkus-Betreuung

Die Hamburger Grünen kritisieren hohe Kosten für die Betreuung eines Kindes in einer Zirkusfamilie. Doch ein geschlossenes Heim wäre doppelt so teuer.

Kostengünstige Lösung: Zirkuswagen für Jeremie. Bild: dapd

Eine schöne Schlagzeile: „Senator Scheele: Schluss mit dem Zirkus“ titelte gestern das Hamburger Abendblatt im Fall des vor zwei Wochen verschwundenen Jeremie, der in einer Zirkusfamilie untergebracht worden war. Die Grünen in der Hamburger Bürgerschaft hatten beim Senat nachgefragt und eine Antwort bekommen, aus der hervorgeht, dass derzeit zwölf weitere Kinder bei Zirkussen und ähnlichen Schaustellerbetrieben untergebracht sind. Und dass der „Neukirchener Erziehungsverein“, der für Jeremie zuständig war, dafür 7.400 Euro im Monat erhielt.

Dafür dürfe man eine „enge pädagogische Versorgung erwarten“, monierte die Grüne Christiane Blömeke. Da bleibe es „völlig unverständlich“, dass nur alle zwei Wochen eine Pädagogin den Jungen besucht habe und ansonsten nur die Zirkusmutter „ohne pädagogische Ausbildung“ den Jungen betreute. Zudem habe der Hamburger Amtsvormund den Jungen zu selten besucht.

SPD-Sozialsenator Detlef Scheele sagte, man werde alle zwölf Fälle überprüfen. Er sehe mit Sorge, dass Jugendämter wie im Fall Jeremie immer wieder auf besondere Arrangements bei auswärtigen Trägern zurückgreifen müssten. Er werde mit den Hamburger Trägern der freien Wohlfahrtspflege darüber sprechen, geeignete Angebote für Kinder wie Jeremie zu schaffen, „damit wir künftig auf die Unterbringung in einem Zirkus nicht mehr angewiesen sind“.

Daraus macht die Bild-Zeitung: „Senator stoppt Zirkus-Irrsinn“. Die Zeitung rief auch bei einer der in der Senatsantwort veröffentlichten Zirkus-Adressen an und fragte, wie sich das dort untergebrachte „Problemkind“ denn mache. Und der Steuerzahlerbund fordert die Abschaffung des Rechtsanspruchs auf Hilfe zur Erziehung.

Von „Hysterie“ spricht das Diakonische Werk in Hamburg, zu dem der Neukirchener Erziehungsverein gehört: „Das man das Zirkus-Konzept auf der politischen Bühne zerreißt, ohne es sich genauer anzugucken, finde ich bedenklich“, sagt Referent Martin Appitzsch. Die Diakonie sei „sehr froh“, dass sie den Neukirchener Erziehungsverein als Träger habe. Andere Träger in der Stadt seien nicht in der Lage, mal eben ein Zirkus-Angebot zu organisieren.

Diakonie-Chefin Gabi Brasch hält das Zirkus-Konzept für „geeignet“. „Individualpädagogische Unterbringung“ sei für bestimmte Kinder das richtige Angebot, die man früher in geschlossene Heine eingesperrt habe. Der Wechsel von Orten, verbunden mit dem ungewöhnlichen Alltag mache die Projekte für diese Kinder attraktiv und könne „hochproblematischen Entwicklungsverläufen“ entgegenwirken.

Fall Jeremie

Der elfjährige Jeremie lebte bei einer Zirkus-Familie im mecklenburgischen Lübtheen, er ist seit 20. November verschwunden.

Die Polizei nahm zunächst an, Jeremie sei selbst mit einem Kleinlaster nach Hamburg geflohen. Inzwischen gilt als wahrscheinlich, dass ein Erwachsener den Wagen fuhr.

Der Junge kam mit 9 Jahren zu der Zirkus-Familie und hatte einen amtlichen Vormund.

Bundesweit werden über 1.000 Kinder individualpädagogisch auf Ponyhöfen oder in Zirkussen betreut. Rund 60 Träger bieten diese in den 90er-Jahren entwickelte Alternative zu Heimen an.

„Wir machen mit diesen Projekten seit über 20 Jahren sehr gute Erfahrungen“, sagt der Sprecher des Neukirchener Erziehungsvereins Ulrich Schäfer. Viele junge Leute hätten inzwischen einen Schulabschluss und eine Berufsausbildung und stünden „fest im Leben“. In den 7.400 Euro für Jeremie sei ein Erziehergehalt für die Zirkusmutter enthalten, sowie Sach- und Overheadkosten für Psychologen und andere Mitarbeiter, die die Familie begleiten, sowie für den vor Ort organisierten Schulunterricht des Jungen.

Nach Angaben der Diakonie sind 80 Prozent der Summe Gehälter. Da es sich um Bruttosummen handele, flössen etwa 3.000 Euro in Form von Abgaben zurück. Die 7.400 Euro seien für eine Eins-zu-eins-Betreuung, wie es sie bei Jeremie gab, der übliche Satz. Diakonie-Chefin Brasch sagt, die Alternative sei eine geschlossene Unterbringung, „und die ist doppelt so teuer“.

Auch der „Bundesverband für Individualpädagogik“ mischt sich in die Debatte ein und verweist auf eine Untersuchung von 2009, wonach Jugendliche von solchen Maßnahmen „nachhaltig profitieren“. Als Vorteil gilt, dass die Kinder selber Akteure sind und in einer Gemeinschaft eine Aufgabe bekommen, wie etwa Tiere füttern. „Mit Kinderarbeit hat das nichts zu tun“, sagt Erziehungsvereins-Sprecher Schäfer.

Und doch lief die Hilfe im Fall Jeremie schief. Der Elfjährige ist verschwunden, die Polizei vermutet, dass er bei der weit verzweigten Sinti-Familie unterkam. In der Sache steht Aussage gegen Aussage. Jeremies Zirkuseltern sagen, er habe sich gut entwickelt und wohlgefühlt. Seine Großeltern in Hamburg-Billstedt behaupten das Gegenteil. Es sei nicht ungewöhnlich, dass es in solchen Settings zu Spannungen zwischen Herkunfts- und Ersatzfamilie komme, sagen die Fachleute. Dahinter stehe der Streit ums Kind.

Den Neukirchener Erziehungsverein empört, dass mit der Senatsantwort auf die Grünen-Anfrage auch die Adressen der übrigen Kinder ins Netz gestellt wurden. Schäfer: „Auch diese Kinder und ihre Familien haben ein Recht auf Sozialdatenschutz.“

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