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Archiv-Artikel

Hallo, Wir-Gefühl!

Der Erfolg der französischen Nationalmannschaft ruft kollektives Glück im Land hervor. Die Politik nutzt das aus

PARIS taz ■ Es braucht nur elf Männer, um die Stimmung in einem Land umzudrehen. Elf Männer, die mit elf anderen einem Ball nachrennen und ihm Fußtritte versetzen, bis er schließlich im richtigen Tornetz zappelt. Im Falle Frankreichs kam der Stimmungswandel reichlich unerwartet. Fast wie ein Schock. Die Euphorie ist jetzt so groß wie der Pessimismus zuvor. Viel Kritik hatten die „Frührentner“ Zidane, Thuram und Co. einstecken müssen. Und ihr Trainer Domenech verstand laut den Trainern an den Theken so viel vom Kicken wie ihre Großmütter. Doch nach dem Sieg über Spanien stutzten die Kritiker. Nach dem Triumph über Brasilien wechselten sie dann gar mit wehenden Fahnen die Seite. Das Fußballfieber hat im Nu die Grande Nation erfasst.

Die vage Hoffnung auf den WM-Titel wich einer Gewissheit, dass „les Bleus“ es nach 1998 noch einmal schaffen könnten. Das gewonnene Viertelfinale gegen Brasilien feierten hunderttausende Fans auf den Champs-Élysées wie den Titelgewinn vor acht Jahren. In dieser Nacht in „Bleu-Blanc-Rouge“ wurde auch wieder die ethnische Eintracht zelebriert: „Black-Blanc-Beur“ heißt die „Trikolore“ nach der Herkunft und Hautfarbe der Spieler der Republik, die den Schmelztiegel wieder als Plus feiert. Der aus Algerien stammende Zinedine Zidane ist wieder „Zizou le Magnifique“, Zizou, der Großartige, und zudem ein Vorbild für erfolgreiche Integration.

Ein neues Selbstwertgefühl hat Frankreich seit dem Sieg im Viertelfinale erfasst: „In der letzten Zeit hatten wir nicht viel Grund dazu, als Franzosen stolz zu sein. Darum tut uns (dieser Sieg) erst recht gut. Natürlich löst der Fußball nicht unsere Alltagsprobleme. Aber es ist ein Augenblick der kollektiven Freude, wie man sie nur selten erlebt“, fasste die 42-jährige Marie das Glücksgefühl zusammen, das weit über die sportliche Begeisterung hinausgeht. Die Bürger, die sonst als Einzelkämpfer mit ihren Problemen und Frustrationen konfrontiert sind, haben das erfolgreiche Kollektiv und die erste Person Plural wiederentdeckt: „WIR sind (wieder) die Champions!“

Natürlich wollen auch die Politiker auf dieser patriotischen Welle surfen. Allen voran Präsident Jacques Chirac, der seit Monaten auf einem Tiefpunkt der Unbeliebtheit angelangt ist, auf dem er im Unterschied zu den Fußballern nicht mehr auf ein Comeback hoffen konnte. Der herrschende Defätismus war das Ergebnis des nahenden Endes seiner Amtszeit sowie der Misserfolge und Skandale seines Regierungschefs Dominique de Villepin. Beide setzen nun auf den Fußball-Patriotismus, der aus ihrer Sicht möglichst über das Halbfinale hinaus anhalten soll. Sie geraten so aus dem Schussfeld und den Schlagzeilen. Vielleicht heizt das sportliche Hochgefühl ja sogar die Wirtschaft an. RUDOLF BALMER