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Halbzeit auf dem Kongreß der Volksdeputierten

Nach den Grundsatz- und Personaldebatten der letzten Tage werden in den nächsten Wochen Sachprobleme im Vordergrund stehen / Boris Jelzin formulierte eine Grundsatzkritik an der bisherigen Linie der Partei / 25 bis 30 Prozent radikale Reformer im Kongreß  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Nach über einer Woche Tagungszeit hat es sich erwiesen, daß die Probleme des riesigen Landes auf diesem Kongreß gerade erst angeschnitten wurden. Dies war nicht anders zu erwarten. Dennoch überraschte westliche BeobachterInnen und die BewohnerInnen Moskaus, wo sich in den letzten Monaten ein breites Spektrum politischer Aktivitäten entwickelte, wie konsequent der Apparat gleich zu Beginn des Kongresses durch Wahlmanipulationen die Aufnahme der VertreterInnen einer radikalen Demokratisierung in den Obersten Sowjet zu verhindern wußte.

Nach diesem Coup erweist sich nun ein weiteres Mal die bewundernswerte Zähigkeit der besten Köpfe des Landes, die hartnäckig auf einer Debatte aller wunden Punkte und brennenden Fragen der sowjetischen Gesellschaft bestehen. In zweierlei Hinsicht ist dieser Kongreß eine Fortsetzung der 19.Parteikonferenz, die vor fast genau einem Jahr stattfand: Ein weiteres Mal erweist sich die Schwäche der politischen Infrastruktur des gewaltigen Landes und gleichzeitig (und gerade deshalb) aber auch das zwingende Bedürfnis nach einer gigantischen Nabelschau.

Wenn Gorbatschow sein Versprechen ernst nimmt, alle 450 Delegierten noch zu Wort kommen zu lassen, die sich zu seinem Grundsatzvortrag äußern wollen, wird allein dies noch einige Tage in Anspruch nehmen. Die MoskauerInnen hoffen daher auf eine Verlängerung des Kongresses mindestens bis zur Mitte der nächsten Woche, eine Möglichkeit, die Außenminister Schewardnadse angesichts des für den 4.Juni geplanten Besuchs Gorbatschows in Paris wohl nicht unerwähnt gelassen hat.

Erstmals bemühte sich eine sowjetische Zeitung um die Herstellung eines permanenten Meinungsbildes unter den Delegierten. Die Soziologen, die für die 'Komsomolskaja Prawda‘ eine Umfrage durchführten, unterscheiden dabei drei Kategorien: 25 bis 30 Prozent mit „radikaleren Erwartungen und relativ geringer Zufriedenheit“, 40 bis 55 Prozent in der „Gruppe mit ausbalancierten Positionen“ und 15 bis 20 Prozent relativ „gemäßigter“ und außerordentlich „zufriedener“ Abgeordneter.

55 Prozent sind der Ansicht, daß sich die Erwartungen an die Arbeit des Kongresses in den ersten Tagen „im großen und ganzen“ erfüllt haben. Immerhin 40 Prozent teilen diese Meinung nicht. Wenn es um die Lösung der Geschäftsordnungsfragen und Wahlprozeduren geht, sind es immerhin schon 54 Prozent Unzufriedene. Eine kleine „radikale“ konservative Minderheit von 9 Prozent hält den Kongreß offensichtlich für überflüssig, sie ist der Ansicht, daß die „Diskussionen dort unfruchtbar sind“, daß „zuviel Worte gemacht werden“ oder, wie es eine Delegierte aus Usbekistan ausdrückte, „es an der Zeit“ sei, nach Hause zu fahren, „weil die Kinder Ferien bekommen“.

Mehrere Abgeordnetengruppen des Kongresses haben sich in internen Papieren über die vorsintflutlichen technischen Bedingungen im Kongreßsaal des Kreml beschwert. An eine automatische Abstimmung per Knopfdruck ist nicht zu denken, was bei einer so großen Zahl von Delegierten geheime Abstimmungen fast unmöglich macht.

Die Moskauer Abgeordneten fliehen in jeder Pause hektisch aus dem Kongreßpalast, weil sie dort weder über Telefone noch über die Möglichkeit zum Treffen mit JournalistInnen verfügen. Leider sind Papiere von Delegierten, die diese Mißstände kritisieren, bisher kaum unter der Kongreßmehrheit verbreitet, weil auch Kopiergeräte im Kongreßpalast des Kreml zumin dest für die Mehrheit nicht zugäng lich sind.

Boris Jelzin, wohl der populärste der Moskauer Abgeordneten, die sich allmittäglich aus dem Kreml verdrücken, hat den Weg in den Obersten Sowjet nicht aufgrund der Wahlentscheidung geschafft, die ihm eigentlich zugestanden hätte, sondern dank der Zivilcourage eines sibirischen Abgeordneten aus Omsk, der ihm seinen Platz abgetreten hat, also dank eines sehr individuellen Gnadenaktes. Daß dies möglich ist, gehört zu den zahlreichen Skurilitäten des Kongresses. Jelzin ist in vielerlei Hinsicht ein gebrannter Mann. Das undurchsichtige Parteiverfahren, das im März gegen ihn eingeleitet wurde, ist nicht der schlimmste Repressionsversuch, hartnäckig hält sich in Moskau das Gerücht über drei Anschläge gegen seinen Wagen auf der Autobahn.

Jelzin hat sich in den ersten Tagen des Kongresses äußerst vorsichtig verhalten. Die Begründung seines Rücktritts von der Kandidatur für den Vorsitz des Obersten Sowjets gehört nicht zu seinen rhetorischen Glanzleistungen, spontane Wortmeldungen hat er bisher vermieden. Seine langerwartete Rede am Mittwoch zeigte allerdings, daß Jelzin noch immer ein Vertreter der revolutionären Perestroika ist. Mit der Forderung nach einem periodischen Referendum über den Vorsitzenden des Obersten Sowjets und dem Vorschlag, bei den Mitteln im Bauwesen (ein Gebiet, für das Jelzin bis vor kurzem als stellvertretender Minister zuständig war und wo er sich daher bestens auskennt) 30 Prozent einzusparen, um eine elementare Sozialfürsorge zu gewährleisten.

Mit seiner Kritik an der Nomenklatura und seiner Forderung, alle Privilegien abzuschaffen, hat Jelzin sachliche Anliegen der Mehrheit der Reformabgeordneten zum Ausdruck gebracht. Die Forderungen nach einer echten Informationsfreiheit, die an die Stelle des verschwommenen Begriffs Glasnost treten könnte, nach elementaren juristischen Garantien für das Individuum und nach einem neuen Rahmen des persönlichen Eigentums werden in der nächsten Woche auf der Tagesordnung des Kongresses der Volksdeputierten stehen.

Was hier auf dem Spiel steht, sind nicht zuletzt die Forderungen von 1917: Das Land den Bauern, die Fabriken den Arbeitern und „alle Macht den Sowjets“. Auch die Macht der Sowjets geht schließlich ohne einen elementaren Reichtum nicht ab, denn was ist ein Parlament ohne Haushaltsmittel?

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