: Haiti schafft es nicht allein
Im Karibikstaat droht eine Katastrophe. Nur eine militärische Intervention könnte sie abwenden. Als Vorbild eignet sich, trotz aller Unterschiede, die Intervention in Albanien
Rebellen lynchen Polizisten. Polizisten setzen Häuser von Oppositionellen in Brand. Wegelagerer verunsichern die Straßen. Ganze Provinzen sind von der Versorgung mit Hilfsgütern abgeschnitten. Haiti scheint im Strudel von Gewalt und Terror unterzugehen. Wie so oft in seiner 200-jährigen Geschichte. Im 19. Jahrhundert hat nur ein einziger Präsident seine Amtszeit regulär zu Ende gebracht. Und auch das 20. Jahrhundert war in Haiti von Krieg, Massakern und Terror geprägt. Dann endlich kam ein Lichtblick: Im Dezember 1990 – nach 30 Jahren Duvalier-Diktatur und fünf Jahren Militärherrschaft – gab es die fairsten Präsidentschaftswahlen, die das Land je kannte. Mit überwältigender Mehrheit siegte der ehemalige Armenpriester Aristide, ein mutiger Mann, der eine Reihe Attentate überstanden hatte, radikale Reden hielt und so etwas wie blühende Landschaften versprach.
Aristide wurde nach nur neun Monaten Amtszeit ins Exil geputscht und kam erst 1994 auf den Bajonetten der amerikanischen Interventionstruppen ins Land zurück. Als erste Amtshandlung löste er die putschfreudige Armee auf. Seither sollen knapp 4.000 Polizisten in einem verarmten Land mit einer Bevölkerung von 8 Millionen Einwohnern für Ruhe und Ordnung sorgen. Von 4 Millionen Einwohnern im erwerbstätigen Alter haben gerade 100.000 ein regelmäßiges Einkommen. Haiti, unter der Knute der Duvaliers ein Paradies für Sonnenanbeter, ist heute ein gefährliches Pflaster. Es gibt zwar noch einen Tourismusminister, aber keine Touristen mehr.
Hätte Aristide bei diesem Befund dem Land einen Weg aus Elend und Terror herausweisen können? Er hatte eine Chance. Genutzt hat er sie nicht. Als er aus dem Exil zurückkam, hatte er nicht nur die verarmten Massen hinter sich, sondern auch einen Teil der gesellschaftlichen Elite und fast die gesamte politische Klasse. Doch die Intellektuellen und Politiker, die Berater und Geschäftsleute, die ihn einst unterstützten, haben sich längst von ihm abgewandt. Aristide hat den Staat immer wie eine große Kirchengemeinde begriffen. Da stand er, der Priester oder Präsident, und dort das Volk, das ihn wie einen Messias verehrte. Dazwischen: nichts. Er liebte den direkten Draht zu den Massen. Von Instanzen und Institutionen, die sich zwischen ihn und das Volk drängten, hielt er nie etwas. Parteien und Parlament schienen ihm allenfalls notwendige Übel zu sein. Richter und Polizisten, Zöllner und Wahlhelfer hatten nicht dem Staat gegenüber loyal zu sein, sondern ihm und seiner Partei, der Lavalas, dieser amorphen Bewegung, die ihn an die Macht gespült hatte.
Die Parlamentswahlen vom Frühling 2000 waren so grob gefälscht, dass sich der 78-jährige Präsident der Wahlkommission in die USA absetzte und aus dem sicheren Exil eröffnete, er weigere sich, die Resultate des betrügerischen Urnengangs bekannt zu geben. Es war der Anfang der aktuellen politischen Krise. An den Präsidentschaftswahlen im selben Jahr, die von der Opposition boykottiert und von Aristide gewonnen wurden, nahmen gerade noch etwa 5 Prozent der stimmberechtigten Haitianer teil.
Je weniger sich Aristide aufs Volk stützen konnte, desto wichtiger wurden die so genannten Volksorganisationen von Lavalas. Aus ihrem Schoß entstanden die Gangs, die – vom Regime bewaffnet – die Opposition terrorisierten und friedliche Demonstrationen sprengten. In Gonaïves, der viertgrößten Stadt des Landes hat nun vor zwei Wochen eine Gang, die bis vor wenigen Monaten noch die dreckige Arbeit für Aristide erledigte, die Seite gewechselt und ihre Stadt „befreit“. Die Rebellion breitete sich aus, und dem Präsidenten weiterhin ergebene Gangs versuchen, sie einzudämmen. Es droht ein Krieg von bewaffneten Gruppen, die kein politisches Ziel verfolgen, außer Aristide aus dem Amt zu vertreiben oder ihn zu verteidigen.
Doch wie weiter? Eine demokratisch legitimierte Macht gibt es in Haiti nicht. Ein Defizit, das nur durch Wahlen behoben werden könnte. Freie Wahlen aber setzen die Entwaffnung der zahlreichen Gangs im ganzen Lande voraus, auf die Aristide seine Macht seit Jahren stützt. Und genau dazu ist die Polizei weder fähig noch willens. Und weil es deshalb keine Wahlen gab, gibt es nun seit einem Monat auch kein Parlament mehr und also auch keine irgendwie demokratisch legitimierte Regierung.
Aufgrund dieser verfahrenen Lage fordert die politische Opposition seit Jahren den Rücktritt des Präsidenten und einen politischen Neufang. Dafür geht sie seit Monaten auf die Straße und wurde regelmäßig von bezahlten Schlägern des Regimes zusammengeknüppelt und vertrieben. Von der bewaffneten Rebellion hat sich die politische Opposition aus guten Gründen distanziert, zumal sich dieser auch Exponenten der vor zehn Jahren gestürzten Militärdiktatur angeschlossen haben. Doch kommt ihr die Revolte gewissermaßen zupass. Sie könnte mit Gewalt schaffen, was der friedliche Protest nicht erreichte: dass Aristide zurücktritt oder zumindest eine internationale Vermittlung akzeptiert, die seine Macht beschneidet.
Angesichts der sich ausbreitenden Gewalt und der absehbaren humanitären Katastrophe hat der französische Außenminister Dominique de Villepin eine Intervention ausländischer Truppen vorgeschlagen. Das ist durchaus sinnvoll, allerdings nur, wenn diese auf die Entwaffnung aller Gangs zielt – der regierungstreuen wie der regierungsfeindlichen. Es geht zunächst darum, Bewegungsfreiheit zu erreichen und eine Hungerkatastrophe abzuwenden. Später muss man ein sicheres Umfeld für Wahlen schaffen. Zudem kommt man nicht umhin, eine professionelle Polizei und eine unabhängige Justiz aufzubauen. Das alles wird ein kostspieliges und langwieriges Unterfangen sein.
Es geht nicht um eine militärische Invasion wie vor zehn Jahren, als die USA in Haiti die Militärdiktatur stürzten. Näher liegt – bei allen offenkundigen Unterschieden – der Vergleich mit Albanien 1997. Dort kontrollierten nach dem Zusammenbruch des Regimes und der Auflösung der Armee bewaffnete Banden weite Landstriche. Eine Intervention von Truppen aus acht europäischen Ländern und der Türkei sorgte für Bewegungsfreiheit und Sicherheit im Land. Der Neuaufbau Albaniens war mühsam. Aber die Fortschritte sind – bei allen Mängeln – nicht zu übersehen.
In Haiti wird eine Intervention nur möglich sein, wenn die USA Aristide mit robustem diplomatischem Druck zum Einlenken zwingen. Sie können es. Und sie werden es spätestens tun, wenn, wie vor zehn Jahren, tausende Haitianer ihre Boote zimmern. Ohne das Einverständnis Aristides aber wird es keine Intervention geben. Jedenfalls nicht, solange nicht tausende Haitianer dahingemetzelt werden. Und danach sieht es trotz allen dramatischen Meldungen aus dem fernen Karibikstaat noch nicht aus. Doch ausschließen lässt sich im ärmsten Staat der westlichen Hemisphäre selbst das nicht. THOMAS SCHMID