: Haftstrafe ohne Häftling
Das Gericht verurteilt einen vor zwei Wochen geflohenen Angeklagten zu elf Jahren Haft. Von ihm fehlt jede Spur
Vor zwei Wochen ist Martin R. zum ersten Mal richtig bekannt geworden. Dem 44-Jährigen, der wegen Betrug vor Gericht stand, gelang damals die Flucht aus dem Gerichtskomplex Moabit. Gestern nun wurde er verurteilt – zu elfeinhalb Jahren Haft. Das Kriminalgericht befand ihn für schuldig, mit fingierten Grundstücksgeschäften über Jahre hinweg mehrere Menschen um Millionenbeträge geprellt zu haben. Antreten muss er seine Strafe vorerst jedoch nicht – denn Martin R. ist noch nicht wieder gefasst worden.
R., dessen 13 Mittäter bereits vor einem Jahr verurteilt worden waren, war auf spektakuläre Weise getürmt: In der Mittagspause seines 50. Verhandlungstages hatte er in der Vorführzelle des Gerichtsgebäudes seinen Bewacher mit einer Glasscherbe bedroht und ihn mit Stofffetzen an einen Heizkörper gefesselt. Dank dem entwendeten Schlüsselbund des Wächters gelang es ihm, unbemerkt aus dem Gerichtsgebäude zu entkommen. Die Flucht hatte nicht zuletzt wegen der Anordnung des Richters hohe Wellen geschlagen, den Angeklagten ungefesselt und nur in Begleitung eines einzigen Wachtmeisters vorführen zu lassen. Justizsenatorin Karin Schubert (SPD) geriet unter starken Druck der Opposition, die ihren Rücktritt forderte.
Unwissenheit ausgenutzt
Wie das Gericht gestern feststellte, nutzte der Millionenbetrüger die Unwissenheit vieler meist älterer Grundstückseigentümer aus. R. hatte seine Opfer überzeugt, ihm einen Schuldschein auf ihr Grundstück auszustellen. Die im Gegenzug versprochenen Darlehen zahlte er jedoch nur teilweise oder überhaupt nicht. Drei Opfer hätten so ihre Grundstücke verloren.
Bei dem laut Richter „unschönsten Fall“ hatte R. Vertrauensleute auf seinen an Alzheimer erkrankten Nachbarn angesetzt, die diesen zu einer Grundschuldaufnahme über 200.000 Euro überredeten. Zum Notartermin habe der 44-Jährige die Summe in bar mitgebracht und dem Geschädigten übergeben. Während ein Komplize den vergesslichen Herrn zum Essen ausführte, habe R. den Geldkoffer wieder an sich genommen. Über Jahre hinweg habe er „seine Methoden stetig weiterentwickelt und verfeinert“, so der Richter. Der Richter begründete das Strafmaß im „zweistelligen Bereich“ mit der „großen Akribie“, mit der der Angeklagte über Jahre hinweg „gewerbsmäßig“ Betrug und Urkundenfälschung betrieben habe. Der Staatsanwalt geht davon aus, dass, hätte alles funktioniert, ein Schaden von 2,8 Millionen Euro entstanden wäre.
Vom Entflohenen, gegen den mittlerweile ein internationaler Haftbefehl erlassen wurde, fehlt jede Spur. Sein Rechtsanwalt Mario Seydel gibt den Ermittlungsbehörden nur wenig Chancen, seinen Klienten zu schnappen. „Er ist ein ausgesprochen pfiffiger Kerl und spricht fließend Portugiesisch“, sagte Seydel der taz. Er könne sich gut vorstellen, dass sich sein Klient mittlerweile in Brasilien aufhalte. Seydel bezweifelt jedoch, dass R. von Anfang an seine Flucht geplant hat: „Wäre das Gericht fairer mit ihm umgegangen, hätte er sich das bestimmt noch mal überlegt.“ Sein Anwalt hätte eine Haftstrafe von siebeneinhalb Jahren für angemessen gehalten.
JONAS MOOSMÜLLER