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Archiv-Artikel

HOLTZBRINCK VERKAUFT „TAGESSPIEGEL“ AN EINEN FREUND DES HAUSES Strohmann mit Parkplatz

Selten wurde im deutschen Tageszeitungsgeschäft durchsichtiger gelogen als derzeit. Wie hatte der Holtzbrinck-Konzern noch Anfang September vor dem Bundeswirtschaftsminister über den Tagesspiegel geurteilt? Das eigene Blatt sei allein nicht überlebensfähig, ein Kaufangebot des Heinrich Bauer Verlages inklusive langer Garantien für den Fortbestand des defizitären Westberliner Traditionstitels durch die Bank unseriös.

Doch seit gestern ist alles anders: Jetzt soll der langjährige Holtzbrinck-Manager Pierre Gerckens den Tagesspiegel kaufen. Die geplante Zusammenlegung mit der 2002 von Holtzbrinck gekauften Berliner Zeitung ist vom Tisch, der Antrag auf eine entsprechende Ministererlaubnis zurückgezogen. Und Gerckens vollbringt gleich ein erstes Wunder: Er werde die angeblich so desolate Lage des Blatts auf dem Berliner Zeitungsmarkt – von Konzernchef Stefan von Holtzbrinck bis zuletzt vehement als Argument für eine Genehmigung des Zusammenschlusses mit der Berliner Zeitung ins Feld geführt – „mit der erfahrenen Mannschaft meistern können“. Wie wunderbar!

Dabei hat sich an der Ausgangslage überhaupt nichts geändert. Die Aufführung, für die Gerckens aus allen Holtzbrinck-Ämtern ausscheidet, hat das dramatische Niveau einer Vorortbühne. Strohmann Gerckens bietet dem Tagesspiegel einen Freiparkplatz. Dort soll er abgestellt bleiben, bis sich die Verlegerlobby mit einer höchst aufgeschlossenen Bundesregierung über eine Neufassungs der Kartell- und Pressefusionsvorschriften verständigt hat. Gerckens gilt als langjähriger Vertrauter von Konzernsenior Dieter von Holtzbrinck, ist selbst mit einem Minianteil am Konzern beteiligt. Das ist praktisch, denn so kann man die Überbrückungszeit ja schon mal für Vorarbeiten nutzen – den Tagesspiegel vom Aufwand her verschlanken zum Beispiel. Die Holtzbrincks müssten sich nicht mal selbst die Hände schmutzig machen. Wenn dann die Liberalisierung kommt, gelingt die Fusion der beiden Blätter ohne lästige Hindernisse. Wie simpel, wie uninspiriert. Leo Kirch hat solche Aktionen immerhin noch so diskret über die Schweiz abgewickelt, dass erst Monate später etwas durchsickerte. Damals ging es nur um ein paar Filmpakete. Heute geht es um die publizistische Vielfalt.

Gestern Nachmittag sprach der Kanzler vor dem Verlegerkongress. „Zur seit einigen Monaten geführten Diskussion zur Lockerung der Fusionskontrolle von Zeitungen will die Bundesregierung in Kürze eine Gesetzesnovelle einbringen“, meldete eine Nachrichtenagentur. Viel Zeit fürs Gegensteuern bleibt nicht. STEFFEN GRIMBERG