■ H.G. Hollein: Jahresplaner
Die Frau, mit der ich lebe, sieht es gern, wenn ich auf dem neuesten Stand der Dinge bin. Deshalb drückt sie mir bisweilen das eine oder andere nützliche Vademecum in die Hand. Der Gefährtin neueste Gabe, der Christliche Volks-Kalender 1898, „herausgegeben zum Besten der Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth am Rhein“, dünkt mich als Begleiter für meinen schnellebigen Alltag allerdings von eher zweifelhaftem Wert. Daß „der Parallel von Berlin“ – als Grundlage für den astronomischen Kalender – bei 52 Grad und 30 Minuten liegt, ist sicherlich nach wie vor gut zu wissen. Daß in Reuß-Greiz Fürst Heinrich XXII. an der Spitze des regierenden Hauses steht, in Reuß-Schleiz hingegen ein gleichnamiger Fürst mit der Nummer XIV herrscht, scheint mir jedoch von nachgeordneter Bedeutung. Zeitlos, weil erfrischend undigital, dagegen die „Tafel zur Stellung einer Uhr nach der Durchgangszeit der Sonne durch die Mittagsebene“ oder „nach irgend einer anderen Zeitangabe einer guten Sonnenuhr“. Stets gegenüber allem Neuen aufgeschlossen, entnehme ich der umseitig folgenden „Tabelle der Näherungswerte zwischen dem alten und dem neuen Maß“ erleichtert, daß 1 Rute 3 und 7/10 Meter lang ist, 23.896 Fuß preußisch aneinandergereiht eine neue Meile (= 7.500 Meter) ergeben, und was bisher 1 Neuscheffel oder 14 1/2 Metzen war, jetzt 50 Liter sind. Von ähnlich beruhigender Gewißheit ist die „Witterungsangabe“ nach dem 100jährigen Hauskalender. „Für Juni: sehr kalt und bis zu Ende Regen – für Juli: anfangs kühl, danach schön und warm.“ Zuletzt – und das möchte der Gefährtin als Geschenkanregung dienen – sei noch auf das im Deckblatt annoncierte „Triumph Sicherheits-Rasirmesser“ zu M 3,50 verwiesen, denn damit „rasirt sich jeder ohne Uebung oder Gefahr selbst“.
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