■ H.G. Hollein: Figaro Village
Der Stadtteil, durch den ich mich täglich mühe, ist seit einiger Zeit eine kapitale Schnittstelle. Zwischen Barnerstraße und Spritzenplatz, Altonaer Bahnhof und Reitbahn hat sich Ottensen zu einem Ballungszentrum der Coiffeurzunft entwickelt. Der Schur-Parcours besteht aus dreizehn Läden auf einer Strecke von ungefähr genausoviel hundert Metern. Ottensens Jeunesse dorée ist mithin zumindest nicht aber- gläubisch, was das Lassen des eigenen Haupthaars angeht. Ich frage mich nur, welche marktwirt- schaftlichen Eckdaten diesem lemmingartigen Zustrom von Frisören zugrunde liegt. Vermutlich die Annahme, wo ein Laden geht, geht auch noch einer. Bei einem Kundenschnitt von – sagen wir mal – 20 pro Tag komme ich bei einer Fünfeinhalbtage-Woche auf über 14.000 geschorene Schädel in nur einer Woche. Das heißt, in einem Monat wird das gesamte Fassungsvermögen des Volksparkstadions in Ottensen gewaschen, geschnitten und gelegt. Ein verkehrs- und entsorgungstech- nischer Albtraum, möchte man meinen. Warum also gerade Ottensen? Einen signifikant höheren Anteil an Narzissten als in anderen Stadtteilen konnte ich bisher in den schmuddeligen Gassen eigentlich nicht ausmachen. Vielleicht liegt der Zulauf ja daran, dass Ottensens Bürgersteige so schmal und die Stühle vor den Cafés ewig von den gleichen Hintern besetzt sind. Da liegen das „Haar Werk“ oder der „Salon Algan“ als hanseatische Alternative zum Kaffeehaus durchaus nahe. Und Frisöre haben bekanntlich keine Wahl, wenn ihnen die Kunden auch noch ein Gespräch aufzwingen. Damit einher geht ein offenbar unausweichlicher Zwang zur Transparenz. Mit cooler Miene im Schaufenster zu sitzen, derweil einem die Schere um die Ohren klappert, ist schlicht ein must. Aber noch mal: Warum Ottensen? Mein Verdacht ist ja, dass hier ein lange angelegter Plan zur städtischen Segmentierung des Dienstleistungsgewerbes seine Erprobungsphase durchläuft. Als nächstes könnte ich mir einen Schub von Zahnarztpraxen vorstellen. Da sitzt man schließlich auch ganz entspannt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen