HCU-Professorin Ziemer über Komplizenschaft: „Mit ist produktiver als Gegen“
Als Professorin für Kulturtheorie beschäftigt sich Gesa Ziemer mit neuen Formen der Kollektivität. Ihr Vorschlag: Seid froh, wenn alles wieder auseinanderfällt.
taz: Frau Ziemer, wenn es nach Ihnen ginge, müssten wir Komplizinnen werden?
Gesa Ziemer: Ich habe über Qualitäten von Zusammenarbeit geforscht, ein Buch geschrieben und einen Film darüber gemacht. Mich interessierte daran ein spezifisches Gruppenphänomen, das noch nicht erforscht wurde und das sich von Teamwork, Allianzbildung, Kollaboration und Netzwerk unterscheidet. Denn viele Menschen arbeiten heutzutage anders zusammen: Man trifft auf interessante Menschen und tut sich zusammen in Kleingruppen, mit denen man unglaublich schnell und auf produktive Art etwas auf die Beine stellt. Allerdings zerfallen diese Gruppen wieder, wenn das Projekt durchgeführt wurde. So bin ich auf den Begriff der Komplizenschaft gekommen. Das ist aber schon ein Postulat dafür, sich zusammenzuschließen. Ich halte das für eine extrem produktive Art des miteinander Arbeitens.
Man könnte vermuten: Sie wollen provozieren.
Man kann über diesen doppeldeutigen Begriff streiten, weil Komplizenschaft in der deutschen Sprache immer ein illegales Moment mit sich trägt und es sehr viele Orte in unserer Gesellschaft gibt, wo diese nicht gut, sondern zerstörerisch wirkt. Ich will kein destruktives Verhalten propagieren und Leute zu Mörderinnen und Mördern machen. Dennoch wollte ich diesen Begriff, den wir aus dem Strafrecht kennen, in die Legalität überführen und untersuchen, was passiert, wenn wir diesen auf kreative Arbeit anwenden.
Kreativität… es gibt ja Leute, die sagen, dieses Wort müsste man vergraben.
Aber der Begriff kann ja nichts für seine Verwendung, zum Beispiel in der Prekarisierungsdebatte. Wenn ich den Begriff für mich in meinem Arbeitsalltag ad acta legen würde, würde ich nur noch die Verhältnisse beklagen und sagen: Die Universitäten und Kulturinstitutionen haben so wenig Geld und die Strukturen sind mangelhaft. Ich bin eher dafür, den Begriff zu rehabilitieren und mit mehr als dem Problem der Selbstausbeutung zu besetzen: mit Spaß und Lust, etwas Neues zu erfinden. Wenn sich Ideen entwickeln, um Strukturen an meiner Universität zu ändern, muss ich mir eben Komplizinnen und Komplizen suchen, um diese durchzusetzen.
Was ist denn mit dem Wort gewonnen?
Komplizenschaft – als eine ganz spezifische Form der Zusammenarbeit – heißt Mittäterschaft und ist ein strafrechtliches Vergehen. Klassischerweise gibt es einen Dreischritt: Ich habe eine Idee, ich entwerfe zusammen mit jemandem einen Plan und führe den auch aus. Wenn ein Kollektiv eine Straftat begeht, wird rekonstruiert, ob die Gruppe alle drei Schritte gemeinsam durchlaufen hat. Überträgt man diesen Begriff nun auf kreative Arbeitskontexte, dann gilt dieser Dreischritt auch. Mit dem Unterschied, dass man keine illegale Tat begeht, sondern legal – nämlich innovativ – etwas Überraschendes entwirft. Positiv finde ich diese Kleingruppen-Formation, die sind schnell und es ist immer so, dass etwas Neues kreiert wird. Es gibt kein bereits vorher gegebenes Ziel, wie beim Teamwork in einer Firma. Das Besondere ist auch, dass die Gruppe nach einer echten Komplizenschaft eben wieder zerfällt, was bei einem gut funktionierenden Team beispielsweise nicht der Fall ist.
45, ist Professorin für Kulturtheorie und kulturelle Praxis im Studienbereich Kultur der Metropole und Vizepräsidentin für Forschung an der Hafen-City-Universität Hamburg. Außerdem ist sie Sprecherin des Graduiertenkollegs "Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Praxis".
Und was dann?
Das ist ein Moment, in dem Öffentlichkeit erreicht ist. Wenn man merkt, das ist wichtig und funktioniert, geht es in eine andere kollektive Struktur über – ganz oft ist das ein Netzwerk oder Teamwork.
Sie sagen, dass sich KomplizInnen oft die Taktiken der Stärkeren aneignen, wieso?
Das kann ein geschickter Schachzug sein und ist unter anderem von Judith Butlers Gendertheorie inspiriert. Sie schreibt, dass Widerstand heute nicht nur heißt, dagegen zu sein, sondern sich die Taktiken der Gegner anzueignen, um dadurch die Machtgefüge zu verändern.
Das ist der postmoderne Ansatz. Gelingt das denn wirklich oder macht man sich was vor und tappt in die Falle?
Das ist die wichtige Frage. Am Genderthema kann man sich das sehr gut überlegen: Um Erfolg zu haben, muss man die männlichen Machttaktiken gut analysieren und manchmal auch aneignen, sonst verschafft man sich kein Gehör. Wenn man das aber zu stark tut, dann reproduziert man deren Verhalten, was man auch nicht will. Das ist eine Gratwanderung.
Wie gehen Sie damit um?
Interessanterweise gibt es im Strafrecht kaum spektakuläre Fälle von weiblicher Komplizenschaft. Das ist kein Zufall. Ich halte es für sehr wichtig, Komplizenschaften zwischen Frauen einzugehen. Persönlich erlebe ich viele Momente, in denen ich das Verhalten von Männern sensibel wahrnehme: Wenn ich in eine Sitzung komme – ich arbeite an einer technisch orientierten Universität noch mit mehr Männern als Frauen – dann ist es wichtig, dass ich meine Dokumente raumgreifend ausbreite und laut „Guten Tag“ sage.
Man könnte aber auch sagen: Ich bin Feministin und erziehe mir die männliche Herrschaft ab.
Wenn Sie mich fragen, funktioniert das nicht. Das führt nirgendwo hin.
Der lange Marsch durch die Institution also?
Nicht unbedingt, denn das hängt von der Profession ab. Aber auch in Institutionen ist Innovation gefragt, auch wenn sie dort oft viel schwerer als in der Wirtschaft durchzuführen ist. Ich glaube schon, dass es weibliche Führungspersönlichkeiten gibt, die die Strukturen sehr genau immer wieder reflektieren. Sie machen sich bewusst, wann sie das Spiel mal mitspielen müssen und wann sie es verändern und andere Leute nachziehen können. Innovationsverhindernde männliche Seilschaften kann man natürlich durchbrechen, indem man ganz gezielt kompetente Frauen einstellt. Nachwuchsstärkung funktioniert aus meiner Sicht vor allem top down. Weibliche Führungskräfte können fördern, weshalb wir diese dringend brauchen. Alle Netzwerke, die bottom up entstehen, sind gut, aber haben oft zu wenig Wirkung. Als Vizepräsidentin einer Hochschule kann ich eine gleichberechtigte Personalpolitik betreiben.
Sie halten also nichts davon, dagegen zu sein?
Nein, ich finde an dem Wort Komplizenschaft das Miteinander-Verflochtene gut. Miteinander agieren, um etwas anderes zu kreieren und manchmal auch die Strukturen, die einen nerven, von links überholen. Die Anderen merken gar nicht, dass man schon längst auf einem anderen Dampfer ist. Wenn man politisch etwas erreichen will, ist dieses Mit viel produktiver als das Gegen. Eine meiner Lieblingssätze im Buch ist, dass Komplizen gegen einen Feind agieren, der von seiner Feindschaft nichts ahnt. Weil man eben keine Stellungskriege eröffnet, sondern einfach daran vorbei zieht.
Sie werben also für den Begriff?
Ich bin ja Wissenschaftlerin und werbe nicht. Gute Wissenschaft hat aber oft mit eigenen Erfahrungen zu tun. In meiner eigenen Projektarbeit habe ich manchmal darunter gelitten, dass Komplizenschaften wieder auseinanderfallen. Ich habe die intensive Zusammenarbeit mit Freundschaft verwechselt. Deshalb habe ich soziologische Kategorien der Gemeinsamen untersucht und gemerkt, dass Komplizenschaft noch nicht beschrieben wurde. Das Auseinanderfallen ist auch eine Chance, sich wieder in einem anderen Kontext zu bewegen. Im Diskurs über Prekarisierung wird die Ausbeutung aktueller Arbeitsverhältnisse, die ein wichtiges Thema ist, stark betont. Die ist aber nicht alles, man kann auch in heutigen Strukturen produktiv agieren.
Ist die Frage nicht: Welche Strukturen sind es denn und möchte man sie überhaupt genau verstehen?
Strukturen zu analysieren, ist wichtig. Aber ich möchte doch dazu motivieren, sich diese als Individuum aktiv zu eigen zu machen und die richtigen Komplizinnen und Komplizen aufzuspüren. Komplizenschaft gibt es übrigens in allen sozialen Milieus: bei Landwirten, Bäckern, Professoren. Wer zu etwas kommen möchte, muss Strukturen überwinden, sonst entsteht nichts Neues. Man muss natürlich vorsichtig sein, wann das produktiv und wann das zerstörerisch werden kann.
Ist es nicht schwierig für diejenigen, die nicht dazu gehören?
Komplizenschaft produziert Exklusion. Und zwar ganz radikal, das ist nicht lustig und auch undemokratisch. Aber eine echte Komplizenschaft ist für Außenstehende zunächst nicht als solche zu erkennen, das macht ihre Kraft aus. Weil sie eine ganze Zeit bewusst in der Anonymität gehalten wird, das ist natürlich auch bedrohlich. Das gehört aber leider dazu. Wenn wir über Innovation reden, sind die anfänglichen Grauzonen ein hohes kulturelles Gut.
Aber nicht jeder kann Komplize sein, was sind die Anforderungen?
Was man wirklich braucht, ist ein hoher Grad an Eigeninitiative und Selbstmotivierung. Weil niemand einem eine Komplizenschaft auferlegt. Es gibt viele Menschen, die das nicht können und nicht wollen. Manchmal entsteht es aber auch aus einer Situation, in der ich bedroht werde, wenn zum Beispiel das Haus abgerissen werden soll, in dem ich wohne. Plötzlich schließen sich die Bewohner zusammen und kreieren eine Komplizenschaft mit originellem Protest gegen Investoren. Das Gängeviertel war dafür ja auch ein super Beispiel.
Inwiefern?
Die Aktivitäten rund um das Gängeviertel sind anfangs aus Komplizenschaften entstanden. Jetzt wirkt dort wohl eher Teamwork, Netzwerk oder Allianzbildung. Ich habe daran immer toll gefunden, dass es nie nur ein Protest gegen Gentrifizierung war. Sehr heterogene Akteure haben sich zusammengeschlossen und hatten Ideen, wie man es auch anders machen könnte. Das hat die Stadt überzeugt und nun entwickelt man gemeinsam.
Woran bemisst sich denn die Güte, ist das nur eine ethische Frage?
Die Frage, ob Komplizenschaft eine konstruktive oder destruktive Wirkung auf Gesellschaft hat, muss an jedem Fall neu diskutiert werden und ist tatsächlich eine Wertefrage. In Hamburg versucht gerade ein Kollektiv, das Ledigenheim, ein Wohnhaus für alleinstehende und mittellose Männer, das seit mehr als 100 Jahren existiert, vom Investor zurückzukaufen. Dieses Komplizen-Beispiel halte ich für extrem produktiv, weil dort eine sinnvolle soziale Struktur aufrechterhalten werden soll, die sonst dem Luxuswohnungsbau weichen müsste. Das ist produktiver Widerstand mit einem klaren alternativen Konzept, den wir brauchen.
Aber oft wird es Leuten ja auch nur untergeschoben, dass sie keine Idee hätten. Das ist ein niederschmetterndes Totschlagargument.
Das stimmt. Aber eine gute Komplizenschaft artikuliert genau solche Alternativen. Sie schafft alternative Ordnungen und sie braucht auch ein bisschen Größenwahn.
Gesa Ziemer: Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität, Transcript Verlag 2013, 200 Seiten, 19,99 Euro
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