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HAUPTSTADTDEBATTEDie »natürliche« Hauptstadt in der westdeutschen Idylle

■ Jede Haupstadt ist ein »soziales Konstrukt«: Ein Debattenbeitrag wider die Illusion, die Zukunft Berlins hänge wirklich von der Hauptstadtfrage ab

Morgen ist es soweit: Der Bundestag entscheidet über die Frage des Regierungs- und Parlamentssitzes. Alle Argumente für und wider Berlin sind hinlänglich bekannt. Was gibt es noch darüber zu schreiben? Ulrich Lange, Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Publizistik und Kommunikationspolitik der FU, beleuchtet hingegen noch einmal den Begriff »Hauptstadt« und wie die Deutschen sich gerade an ihm abarbeiten. Vielleicht zum letzten Mal.

Berlin ist die historische Hauptstadt Deutschlands. Gegen Berlin als Hauptstadt spricht, daß sich die deutsche Geschichte nicht wiederholen darf. Für Berlin als Hauptstadt spricht, daß sich Geschichte nicht wiederholt.

In der Debatte um die deutsche Hauptstadt wird so argumentiert, als ob es so etwas wie eine natürliche Hauptstadt gibt. Jede Hauptstadt ist indes ein soziales Konstrukt.

Die normative Hauptstadt in einer parlamentarischen Demokratie ist der Sitz von Parlament und Regierung. Für eine solche kommen nur wenige deutsche Städte in Frage. Frankfurt spielte eine historische Vorreiterrolle und stand schon deshalb nach dem Krieg in Konkurrenz zu Bonn. Bonn hat sich jedoch ohne Zweifel für den Aufbau der bundesdeutschen Nachkriegsordnung bewährt. Weimar war letztlich zu schwach, Berlin zu stark. Beide Städte haben in dieser Hinsicht versagt.

Die analytische Hauptstadt ist der reale Ort der zentralen Gewalt. In diesem Sinne wäre der Bankenplatz Frankfurt eine weitaus geeignetere Hauptstadt als Bonn oder Berlin. Weder die Handelsstadt Hamburg, die Industriestadt Stuttgart oder das Ruhrgebiet haben hier Ähnliches zu bieten.

Die ästhetische Hauptstadt bietet den architektonischen und kulturellen Reiz einer lebendigen Metropole. Hier kann sich Berlin mit Städten wie München längst messen. Die Moderne der bildenden Künste in Düsseldorf oder Köln verblaßt vor den widersprüchlichen Experimenten gelebten Lebens im gebrochenen Berlin. Berlin lebt als Fragment und durch das Fragment. Die Metapher der »Haupt«-Stadt suggeriert Ganzheit, eine Ganzheit, die auf die Glieder verzichten kann. Berliner sind selbstgefällig genug, die Welt aus ihrem Blickwinkel zu verstellen. Diese Überheblichkeit zeichnet das Lebensgefühl eines Hauptstädters aus. In dieser Hinsicht sind die Berliner die einzig wirklichen Hauptstädter der Republik.

Berliner pflegen ihren Visionen und reden nur selten über die Illusion. Während dem umgrenzten Berlin nur die Möglichkeit offenstand, mit Visionen in die Schneisen, die der Krieg in die Stadt geschlagen hat, zu implodieren, blieb dem betulichen Bonn und der bundesdeutschen Politik nur der Weg in die ökonomische Expansion. Berlin hat von der Prosperität der westdeutschen Idylle gelebt. Hieraus nährte sich die Illusion, daß das Berliner Experiment aus sich heraus weiterhin lebensfähig bleiben könnte. Wenn die Berliner ihre Einstellung, daß die bundesdeutsche Peripherie die Hauptstadt finanziell zu betreiben habe, nicht überdenken, dann kann die Berliner Kultur, wie sie ist, nicht überleben. Eine Hauptstadt ohne eine eigene ökonomische Vision verdrängt das soziale Elend an ihre Ränder. Ein politischer Hauptstadt-Entwicklungsplan kann die ökonomische Entwicklung nicht ersetzen.

Der »Hauptstadt«-Begriff überhaupt stammt aus einer Zeit, als Kommunikation an Orte gebunden war. Die Orte lösen sich aber auf, nur die Mächte scheinen zu bleiben. Moderne Kommunikationstechnik hat die Kommunikationsnetze von Eliten trotz großer Entfernungen eng geknüpft. Schon aus diesem Grunde können alle modernen Mächte mit allen Hauptstadtlösungen leben, mit nominalen Hauptstädten und beliebigen Funktionsteilungen.

Die nominale Hauptstadt Berlin eignet sich zum sozialen Ausgleich. In den neuen Bundesländern überwiegt die Forderung nach einer gerechten Machtbalance. Mögen die »realen« Hauptstädte auch weiter im Westen bleiben, als gerechte Hauptstadt erfüllt Berlin eine soziale Kompensationsfunktion gen Osten.

Die groteskeste aller Sichten in der Debatte um den Charakter der Hauptstadt ist die, daß eine Stadt eine Vergangenheit oder gar eine Zukunft verliehen bekommen könnte. Stadt ist lebendige Gegenwart. Die Zukunft einer Stadt liegt in der Fähigkeit ihrer Bürger, die Vergangenheit tagtäglich neu zu entwerfen. Weder die Zukunft der Stadt Berlin noch die Zukunft von Bonn hängen deshalb wirklich von der Hauptstadtfrage ab. Die Faszination einer Stadt liegt in ihrer Kraft zur Erneuerung. Erneuerung aber beruht auf Kommunikation, und die geht über die Politik weit hinaus.

Viele führende Politiker leben im sozialen Ghetto. Aus einer Ghettosituation heraus lassen sich die Möglichkeiten einer Stadt nicht erschließen. Es ist absurd anzunehmen, daß sich die Ghettosituation der Bonner Politiker aufheben ließe, indem sie von einem Raumschiff auf ein anderes umsatteln. Ebenso peinlich ist die Berliner Vorstellung, daß sich der Bundespolitiker am biederen Bonner Stammtisch prinzipiell weniger bürgernah verhalte als der Metropolendandy in seinem Yuppie-Milieu.

Die Frage, ob Politiker mehr oder weniger reisen, ob sie in Zukunft häufiger oder seltener telefonieren, um ihre Aufgaben zu erfüllen, ist absolut unerheblich, und selbst die leidige Finanzierungsfrage riecht nach dem apolitischen Mief des deutschen Michels, dem die Demokratie schon immer zu teuer war. Ulrich Lange.

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