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Archiv-Artikel

HARALD HEISKELNEBENBEFUND Der Kaiser ist nackt, und jeder weiß es

Prävention von Krankheit bedeutet, für Bildung und soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Aber es heißt nicht: Früherkennung und Bonusheft, um Geld zu verdienen

Ich schaue auf meinen heutigen Terminplan: Erster Patient kommt zur Gesundheitsuntersuchung. Die zweite zum Hautkrebsscreening. Der nächste braucht ein Attest für die Lebensversicherung, der danach bekommt eine „Krebsvorsorge“. Prima, denke ich, das gibt „außerbudgetäres“ Geld. Das ist Geld, das mir nicht wegen Leistungsüberschreitung wieder abgezogen wird. Und zwar deswegen nicht, weil durch alle Parteien und über die Legislaturperioden hinweg doch eines Konsens ist: der Präventionsgedanke.

Früherkennung rettet Leben. Auch die Kassen machen mit. Mehr und mehr Patienten kommen mit ihren Bonusheften und wollen von mir bescheinigt haben, dass sie brav vorsorgen. Es ist angenehm, gesunde Menschen ärztlich zu versorgen und dabei Geld zu verdienen. Aber manchmal frage ich mich, was ich da eigentlich tue. Habe ich nicht genug Kranke zu betreuen? Menschen mit chronischen Mehrfacherkrankungen? Solche, die enger Führung bedürfen, weil sie sich selbst vernachlässigen. Psychisch kranke Menschen, die viel Zeit brauchen. Sterbende, die ich begleiten muss.

Immer mehr gesunde Menschen verstopfen die Hausarztpraxen. Ich meine nicht die Hypochonder, die haben Angst und brauchen etwas, wenn auch keine medizinischen Untersuchungen. Ich meine die scheckheftgepflegten Musterversicherten und Stammwähler etablierter Parteien mit ihrem Präventions-Common-Sense.

Was ist dahinter? Keine wissenschaftliche Untersuchung beweist, dass die sogenannte Gesundheitsuntersuchung irgendeinen präventiven Nutzen hat. Die Datenbasis der Hautkrebsuntersuchung ist so arm, dass keine Nutzenbelege zu erwarten sind. Auch zur Krebsvorsorgeuntersuchung von Männern gibt’s die nicht. Die Prostatauntersuchung durch Betasten oder Bluttest führt zu Überdiagnosen. Die für die Prostatakrebsfrüherkennung günstigste Studie zeigt, dass 48 Männer behandelt, also operiert, kastriert, zu einem Drittel bis zur Hälfte impotent und inkontinent gemacht werden, um ein Leben zu retten.

Der Nutzen der Brustkrebsvorsorge durch Mammografie bei über fünfzigjährigen Frauen wird nach einer neuen Übersichtsarbeit völlig überschätzt. Die Chance, durch eine Vorsorgedarmspiegelung den eigenen Darmkrebstod zu verhindern, liegt bei 1:2.500. Die Daten sind bekannt. Der Kaiser ist nackt. Wer mit der Materie vertraut ist, weiß es.

Prävention von Krankheit heißt Bildung und soziale Gerechtigkeit, nicht Früherkennung und Bonusheft. Keiner sagt’s laut, weil jeder dran verdient: Jeder Partei steht es gut an, Prävention ins Programm zu schreiben. Der Arzt bekommt Geld für die Untersuchungen. Die Krankenkasse wirbt mit ihren Vorsorgeprogrammen um gesunde Versicherte. Und so gibt es für die Versorgung von Kranken immer weniger und für die von Gesunden umso mehr Geld. Doch der Kaiser ist nackt. Ich sag’s nur heimlich, jetzt, hier. Denn morgen schon mache ich wieder Gesundheitsuntersuchungen, sonst stimmt die Kasse nicht.

Der Autor ist ist Allgemeinmediziner in Frankfurt/Main. Im Wartezimmer hat er die taz Foto: privat