Gymnasien ohne Kinder aus der Unterschicht: "Unbewusste Diskriminierung "
Eine Studie zeigt: Lehrer schicken Kinder aus der Unterschicht seltener aufs Gymnasium als besser gestellte Altersgenossen. Bildungsforscher Alexander Schulze erklärt, warum.
taz: Herr Schulze, laut Ihrer Studie geben Lehrer Kindern aus der Unterschicht trotz gleicher Noten oft schlechtere Schulempfehlungen als den Altersgenossen aus Ober- und Mittelschicht. Warum?
ALEXANDER SCHULZE, 31, ist Soziologe an der Universität Mainz. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialstruktur und Ungleichheit bei Professor Stefan Hradil. Sein Forschungsschwerpunkt liegt bei der Bildungssoziologie.
Die Studie: Zwei Soziologen von der Universität Mainz sowie ein Forscher der Universität Bremen haben für die Stadt Wiesbaden untersucht, welche Faktoren den Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule bestimmen. Die Grundschullehrer geben den Eltern eine Empfehlung, welche Schulform sie für geeignet halten.
Die Ergebnisse: 81 Prozent der Wiesbadener Schüler aus der Oberschicht, aber nur 14 Prozent der Kinder aus der Unterschicht erhielt eine Gymnasialempfehlung. Hauptschulempfehlungen kamen bei Oberschichtkindern nahezu nicht mehr vor. Insgesamt erhielt knapp die Hälfte der Kinder eine Gymnasialempfehlung. BK
Alexander Schulze: Die Noten haben natürlich nach wie vor den größten Einfluss auf die Empfehlungen. Aber es spielen eben auch viele Faktoren hinein, die nicht direkt mit der Leistung zu tun haben. Das kann aus Sicht des Lehrers durchaus vernünftig sein: Er kennt die Eltern, er kann abschätzen, welche Unterstützung ein Kind zu Hause oder an der weiterführenden Schule bekommen kann. All das wird unbewusst in die Empfehlungen mit aufgenommen.
Die Lehrer benachteiligen also nicht bewusst?
Um Gottes willen! Das wäre ein völlig falscher Schluss aus unserer Studie.
Was beeinflusst die Schulempfehlungen besonders?
Die soziale Herkunft spielt eine große Rolle. Und zwar eine größere als der Migrationshintergrund. Einwandererkinder schaffen es zwar seltener aufs Gymnasium. Das liegt allerdings daran, dass sie sehr häufig zur unteren Schicht gehören, die Ethnie ist weit weniger wichtig. Diese Benachteilung ist kein Migrations-, sondern ein Unterschichtenphänomen.
Unter welchen Umständen könnten die Empfehlungen gerechter werden?
Manche Lehrer vermuten, dass ein Kind aus der Unterschicht zu Hause weniger Unterstützung erwarten kann. Deswegen sprechen sie oft eine schlechtere Schulempfehlung aus. Solche Nachteile können durch Angebote der Schule wie Sprachkurse oder Hausaufgabenbetreuung kompensiert werden.
In vielen Bundesländern ist die Empfehlung für den Besuch einer weiterführende Schule verbindlich. Verschärft das die soziale Schieflage?
Das kommt drauf an. Der Schulübergang besteht aus vielen Schritten. Die Benachteilung kann sich mit jedem Schritt verstärken. Aber wir müssen erst einmal verstehen, an welchen Stellen es zu welchen Diskriminierungen kommt. Zuerst entstehen Noten. Mit den Noten und anderen Merkmalen werden Empfehlungen gemacht. Damit und mit ihren eigenen Bildungswünschen gehen die Eltern an die weiterführenden Schulen. Sind die Empfehlungen nicht bindend, melden Eltern mit hohem sozialen Status und großem Ehrgeiz ihr Kind trotz mäßiger Noten vielleicht sogar eher am Gymnasium an. Das machen Eltern aus der Unterschicht nicht.
Bildungsempfehlungen können also auch zu mehr Gerechtigkeit führen?
Es kommt darauf an, wie sie ausgestaltet sind. Wenn man dem Bildungswunsch der Eltern viel Raum lässt, kommt das heraus, was wir feststellen: Beim Schulübergang spielt nicht nur die Leistung der Kinder eine Rolle, sondern auch die soziale Herkunft. Eltern aus der Oberschicht legen viel mehr Wert auf die Schulbildung ihrer Kinder und widersetzen sich einer schlechten Schulempfehlung daher eher.
INTERVIEW: BERND KRAMER
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