piwik no script img

Gurke des Tages

Zwischen 50 bis 200 Touristen werden in jedem Jahr vom Jerusalem-Syndrom befallen. „Gewöhnlich beginnt es am zweiten Tag ihres Aufenthaltes in Jerusalem“, sagt Doktor Jair Bar-El, Arzt in der Psychiatrischen Klinik „Kfar Schaul“. „Die Person beginnt zu zittern, unterzieht sich gründlichen Reinigungsritualen, kleidet sich in lange weiße Gewänder und begibt sich an eine der zahlreichen heiligen Stätten der Stadt.“ Manche von ihnen identifizieren sich dann mit biblischen Gestalten. „Männer halten sich häufig für Johannes den Täufer, bei den Frauen steht Maria, die Mutter Jesu, auf Platz eins.“ Zwischen 1979 und 1993 wurden allein in Kfar Schaul 470 Personen mit dem Jerusalem-Syndrom behandelt. 66 Prozent der Patienten waren jüdisch, 33 Prozent christlich. „Ein Prozent war erstaunlicherweise zuvor gar nicht religiös“, sagt Bar-El. Die meisten der Betroffenen, so Bar-El, sind um die vierzig und kommen aus religiös geprägten Mittelstandsfamilien in Nordamerika und Europa. Erstaunlicherweise gehören die jüdischen Patienten zumeist der eher nüchtern geprägten Reformrichtung an – und bis auf zwei waren bislang alle christlichen Patienten in Kfar Schaul Protestanten. „Der Protestantismus bietet wenig Möglichkeiten zu spiritueller Ekstase“, erklärt der Psychologe. Touristen, die sich für eine der biblischen Gestalten halten und an den heiligen Stätten in Jerusalem zu predigen anfangen, werden gewöhnlich von israelischen Polizeikräften aufgegriffen und in die Klinik gebracht. Aber auch der palästinensischen Polizei lief kürzlich ein vorgeblicher Johannes der Täufer in die Arme, der sich ohne Wasser- und Essensvoräte, nur mit einem Sack bekleidet, in der Wüste bei Jericho aufhielt. Sowohl Jericho- als auch Jerusalem-Syndrome sind heilbar: Bisher habe er noch keinen Fall gehabt, der länger als sieben Tage gedauert habe, so Doktor Bar-El. Rückfälle seien ihm auch nicht bekannt. Noch nie habe er denselben Johannes den Täufer zum zweiten Mal behandeln müssen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen