■ Guido Westerwelle warnt vor Sozialdemokratisierung der CDU: Falsche Diagnose, richtige Krankheit
Das Ende des „sozialdemokratischen Jahrhunderts“ ist ein wenig vorschnell eingeläutet worden, wie ein Blick auf die politische Orientierung der meisten europäischen Regierungen lehrt. Eher könnte man davon sprechen, daß der „Sozialdemokratismus“ sich in die Reihen seiner ehemaligen Gegner eingefressen hat. Dies zu studieren boten die achtziger Jahre in Deutschland reiches Anschauungsmaterial, als die Kohl-Regierung, weit davon entfernt den Spuren Margareth Thatchers zu folgen, dort weitermachte, wo Helmut Schmidt 1982 aufzuhören gezwungen war. Jetzt ist schließlich auch Guido Westerwelles in der Opposition geschärftem Auge dieser Sachverhalt aufgefallen: Er warnt vor der „Sozialdemokratisierung der CDU“.
Bloß, ist es überhaupt der sozialdemokratische Krankheitserreger, der nach Meinung des FDP-Diagnostikers die CDU befallen hat? Die von ihm dem Publikum präsentierten Patienten, Blüm und Geißler, leiden nicht an dem sozialdemokratischen, sondern an einem anderen, ebenfalls schon seit Jahrzehnten der Fachwelt bekannten Syndrom: dem der christlichen Sozialethik. Beide Krankheiten, die christliche wie die sozialdemokratische, haben eine gemeinsame Wurzel: Solidarität oder auch Solidarismus, je nach Ursprung mit August Bebel oder Papst Leo XIII. Beide haben ein gleiches Angriffsziel: den schrankenlosen, sich selbst als einzigen Wert setzenden Individualismus. Und beide grassieren wieder, seit sich herumgesprochen hat, daß die unsichtbare Hand des Marktes nicht nur Gewinner hervorbringt.
Das Heimtückische an dem von Westerwelle diagnostizierten Krankheitsbild liegt nicht darin, daß die CDU partout an einer wie immer zurückgedrehten und zurechtgestutzten Version von Sozialpartnerschaft und sozialer Marktwirtschaft festhalten will, genauer gesagt, als Volkspartei festhalten muß. Die insbesondere von Geißler ausgehende Gefahr zeigt sich vielmehr in der kaum greifbaren, immer wieder aufflackernden, stets präsenten Haltung des christlichen Konservatismus, dessen Mißtrauen in die kapitalistische Entwicklung nie ganz besänftigt werden konnte – und dessen Ähnlichkeit mit manchen Positionen des grün-alternativen Wertkonservatismus zum Beispiel hinsichtlich der „Bewahrung der Schöpfung“ offenkundig ist.
Westerwelle hat also die falsche Diagnose gestellt, aber die richtige Gefahr erkannt. Christian Semler
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