Günter Grass' Stasi-Akte als Buch: Der Feind Nummer eins
Stasi, SED und DDR sind passé – aber Günter Grass bleibt skeptisch. In Berlin stellt der Schriftsteller seine, gerade als Buch erschienene, Stasi-Akte vor. Ganz ohne Triumphgefühl.
Sie hatten ihn voll im Visier. Günter Grass konnte in der DDR zeitweise keinen Schritt machen, ohne dass die Stasi nebensächlichste Details notierte - ob Grass ordentlich gekleidet war, ob seine Frau am Steuer saß; akribisch wurde alles mitgeschrieben. 2.300 Seiten Überwachungsberichte, die der Journalist Kai Schlüter nun auf 384 Buchseiten aufgearbeitet hat, zeichnen aber vor allem ein vielsagendes Bild eines Staates, der die Grass-Überwachung sogar zur Chefsache im Politbüro machte. Es ist ein schlechtes Bild, das Grass nun aber nicht recht allein stehen lassen möchte - auch der Westen, so der Nobelpreisträger, habe seine "schwarzen Flecken".
Schlüters Dokumentation stellte Grass jetzt in der Hauptstadt, im Berliner Ensemble, vor. An gleicher Stelle in fast gleichem Aufzug - brauner Anzug, roter Pullover - ist er auch vor einem Jahr aufgetreten. Auch damals hat ein Buch vorgestellt, auch damals polemisiert. Gegen eine Bundesrepublik, in der nur die Reichen recht bekämen, wo Zensur herrsche - der Spiegel hatte doch tatsächlich einen Text von ihm nicht gedruckt - und der Osten beraubt worden sei.
So darf auch dieses Mal, wenn es um seine Überwachung durch die Stasi zwischen 1961 und 1989 geht, der Westen nicht zu gut wegkommen. Denn Grass mutmaßt, Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz hätten ihn ebenfalls überwacht. Beweise kann er auf der Bühne zwar nicht vorlegen. Aber für Grass ist es schon ein Indiz, dass der BND vom früheren Chef der Nazi-Ostspionage aufgebaut wurde. Auch die Bundesrepublik sei "alles andere als ein demokratisches Aushängeschild" gewesen, als seine Überwachung 1961 begann.
"Ich hoffe, dass dieses Buch dazu beiträgt, zu differenzieren und genauer hinzuschauen", sagt Grass. Lange habe er sich dagegen gesträubt, dass seine Akte veröffentlich wird. Aus prinzipiellen Überlegungen: Es wäre für ihn "ein später Triumph für die Stasi", wenn deren Sicht auf die Dinge als einzige Wahrheit gelten würden. Die Masse des Materials habe ihn dazu gebracht, doch einer Veröffentlichung zuzustimmen. Denn in den Berichten aus 28 Jahren spiegele sich auch ein Stück deutsch-deutscher Literaturgeschichte.
Am 18. August 1961, fünf Tage nach dem Beginn des Mauerbaus, hatte die Stasi begonnen, Grass bei DDR-Besuchen zu überwachen. Aktueller Anlass war ein Schreiben von Grass an Anna Seghers, damals Präsidentin des DDR-Schriftstellerverbands. Darin vergleicht Grass SED-Chef Walter Ulbricht angesichts des Mauerbaus mit einem KZ-Kommandanten.
Grass beschäftigte nicht nur untere Chargen und Führungsoffiziere der Stasi. Seine Beobachtung wanderte bis ins Politbüro der SED. Mit dem Vermerk "Streng geheim" schrieb dort Chefideologe Kurt Hager an Stasi-Chef Mielke, um eine Einreise von Grass zu klären. Als "Feind Nummer 1" sieht sich Grass stilisiert und hält doch seine Aktivitäten für überwertet. Er und DDR-Schriftsteller hätten lediglich den Kontakt aufrechterhalten wollen, als sie sich in den 70ern in Ostberlin im kleinsten Kreis zu Lesungen trafen.
Stasi, SED und DDR sind passé, aber Grass kann nicht anders, als skeptisch zu bleiben. Und er will keine Siegesgefühle aufkommen lassen. "Die Demokratie, in der wir heute leben", sagt er zum Abschluss, "ist brüchig und zeigt deutliche Anzeichen von Hinfälligkeit."
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