MARX-KONGRESS : Gucken und zuhören
Vor der Humboldt-Universität gibt mir Etienne Balibar die Hand und fragt, wie viel Zeit ihm noch bis zu seinem Auftritt bleibt. Ich habe keine Ahnung, aber die Frage ist auch gar nicht an mich gerichtet. Balibar spricht Deutsch, und ich denke, toll, Balibar spricht Deutsch.
Er ist klein, hat weiße Haare und trägt die Farben, die bei älteren Herren sehr beliebt sind: beige und ein helles Grau. Im Hörsaal zieht sich die Sache hin, eine Art Ritual für eine Veranstaltung, in der es um die Bedeutung von Marx für die heutige Zeit geht. Das muss man erst mal ein wenig sacken lassen. Vielleicht aber fehlt auch bloß ein Signal.
Bei Rockkonzerten fangen die Leute an zu pfeifen, wenn sich die Künstler zu viel Zeit lassen. Also pfeife ich auch. Es funktioniert. Der Gesprächspegel ebbt ab und der Moderator kündigt Etiènne Balibar an. Etiènne Balibar spricht Englisch. Er liest vom Blatt ab, ohne aufzusehen. Er spricht schnell und sehr lange und ich verstehe fast alle Wörter, aber seine sonore Stimme versetzt mich in einen trägen Zustand. Ich werde sehr müde. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Hinterköpfe der Studenten vor mir studiere, aber ich kann keine These davon ableiten. Auf dem Hof machen die in Grüppchen herumstehenden Studenten einen ratlosen Eindruck. Ich bin froh, dass es ihnen auch nicht besser geht als mir, der ich ja schon lange nicht mehr an der Uni bin. Aber ich finde es auch toll, dass es Balibar völlig egal ist, ob ihm jemand folgen kann. Am Büchertisch stehe ich neben einer Frau, die eine große Haarspange mit Schlaufe im Haar trägt, einen roten BH und ein schwarzes Kleid mit Spitze. Sie zeigt auf ein Buch und sagt: „Hast du das geläsen?“ Ihr Begleiter schüttelt den Kopf. „Hast du das geläsen?“ Wieder nichts. Sie deutet auf „Der kommende Aufstand“ und sagt: „Hast du das geläsen? Alle haben das geläsen.“ Stimmt, sogar ich.
KLAUS BITTERMANN