: Grundwiderspruch
Betr.: „Kein Rolli, keine Chance“, taz nord v. 25. 7. 3
Ganz wunderbar, wie Sie (...) en passant die Schwächen eines Modells aufgedeckt haben, das von seinen Anhängern als der Königsweg zur Intergration von behinderten Menschen propagiert wird. Dieses aus den USA importierte soziale und kulturelle Modell von Behinderung geht davon aus, dass Behinderte gar nicht (oder allenfalls am Rande) behindert seien, sondern von der Gesellschaft behindert würden. Und dass sie – wie Frauen, Schwarze oder Homosexuelle – ihre ganz eigene Kultur besäßen, die nur ihnen selbst zugänglich sei. In einem solchen Modell ist die Gesellschaft in tausendundeine Interessengruppen segmentiert, die alle gegeneinander ihr Terrain und ihre Besonderheiten verteidigen. Und selbst wenn gar nichts (mehr) zu verteidigen ist, so ist es doch immerhin die korrekte Sprache, die es zu bewachen gilt. „Andersfähige“ statt Behinderte, wie es derzeit aus den USA herüberklingt. (...)
Behinderung (...) verbindet nicht, sondern sie trennt die Menschen voneinander. Nicht einmal mich selbst verbindet sie mit mir, obwohl ich seit nahezu 30 Jahren im Rollstuhl sitze. Was Identität stiftet – und das gilt für alle Menschen – ist nicht dasjenige, was sie nicht können, sondern das, was sie können und lieben. Über diesen Grundwiderspruch vermag die „neue Behindertenbewegung“, die Nichtbehinderte (...) prinzipiell ausschließt, nicht hinauszukommen. (...) Denn die neue – vielfach US-amerikanisch sozialisierte – „Behindertenelite“ (der man ihr Behindertsein, wie Sie völlig zutreffend registrieren, manchmal gar nicht ansieht) hat sich mit dem Dogma des Ausschlusses von Nichtbehinderten einen gewaltigen Platzvorteil erkämpft: „Lieber im ideologisch geschlossenen ‚disability village‘ der Sieger als in einer (wie auch immer gearteten) offenen gesellschaftlichen Struktur der Drittletzte oder der Dritte“, scheint ihre dem Zeitgeist (...) bewusstlos vorauseilende Devise. (...) WALTER GRODE, Hannover