: Grüße aus dem Kreml
LITERATUR In dem Buch wird mit Gewalt und Sadismus nicht gegeizt. „Nahe Null“ heißt der Roman, der in Russland für Aufsehen sorgt. Der Autor ist unbekannt, aber hinter dem Pseudonym steht wohl niemand Geringerer als der Kreml-Chefideologe Wladislaw Surkow
VON KATHARINA GRANZIN
Der Anfang dieser Geschichte liegt bisher im Dunkeln. Auch ihr Ende ist unsicher; und wie viele der Beteiligten in Doppelrollen unterwegs sind, lässt sich erst recht nicht sagen. Da aber Literatur, Politik und Leben in ihr auf so unnachahmliche wie unbegreifliche Weise miteinander verquirlt worden sind, muss man sie einfach erzählen. Möglich, dass genau das zum Gelingen des Plans desjenigen gehört, der sie in Gang gebracht hat. Aber was ist der Plan? Und wer hat diesen ausgeheckt?
Rückschau: Im Herbst letzten Jahres kam in Russland das Buch „Okolonolja“ heraus – und ist jetzt unter dem Titel „Nahe Null“ in Deutschland veröffentlicht worden. Das wäre kein sehr bemerkenswertes Ereignis, wenn nicht bald das Gerücht umgegangen wäre, der Verfasser sei Wladislaw Surkow höchstpersönlich: Chefideologe des Kreml und engster strategischer Berater von Präsident Dmitri Medwedjew und seinem Regierungschef Wladimir Putin. Surkow, Sohn einer Russin und eines Tschetschenen, gilt als Nummer drei im Staat.
Einst hatte der 45-Jährige in der Marketingabteilung von Michail Chodorkowskis Bank Antep gearbeitet und eine Werbeagentur geleitet, bevor er als Lobbyist in die Politik ging. Sein keine demokratischen Skrupel kennendes Talent auf diesem Gebiet brachte ihn noch unter Boris Jelzin in die Präsidialverwaltung, deren stellvertretender Leiter er heute ist. Medwedjew ist der dritte Präsident, dem er dient. Unter Putin wurde offensichtlich, dass Surkows Fähigkeiten weit über die Abgeordnetenbestechung hinausgehen; vom unsichtbaren Strippenzieher wurde er zu einer öffentlich wahrnehmbaren Figur. Die Gründung der Partei Vereinigtes Russland wird ihm ebenso zugeschrieben wie die der Putin-Jugend Die Unseren. Er ist es auch, der den Begriff von der „souveränen Demokratie“ geprägt hat.
Und jetzt soll dieser ideologische Chefdesigner also diesen Roman geschrieben haben, auf dem als Verfasser ein gewisser Natan Dubowitzki steht. Aber warum? Und wann soll dieser viel beschäftigte Mann das getan haben?
Worum geht es eigentlich?
„Nahe Null“ ist ein fast lehrbuchhaft postmoderner, in Zitaten schwelgender Roman, der sich hier satirisch, dort thrilleranalog gibt, um dann unversehens ins Groteske zu wechseln oder eine Prise Surrealismus einzustreuen, das mit der Darstellung von Gewalt und Sadismus nicht geizt.
Hauptfigur des Romans ist ein zynischer Intellektueller und Literaturkenner, der als Killer im Auftrag einer Buchmafia Karriere gemacht hat. Dieser Jegor Samochodow ist ein Nihilist im Fühlen und Denken. Sosehr er die korrumpierte, abgestumpfte, geld- und gewaltgeile Gesellschaft verachtet, ist er doch gleichzeitig deren gefühlskalter Profiteur. Weder sein einziges Kind, ein Zahnpasta essendes, verzogenes Gör, kann er lieben noch seine perfekte Geliebte, die sich in seiner Wahrnehmung in fast nichts von einer Gummipuppe unterscheidet. Nur einen schwachen Punkt hat Jegor, an dem seine umfassende Gleichgültigkeit versagt: seine Exaffäre Plaksa. Als er sie in einem Snuff-Movie sieht, in dem sie vergewaltigt und dann ermordet wird, wird Jegor aus der Bahn geworfen und merkt nicht, dass er mit seinem Wunsch nach Rache in eine Falle geraten ist. Wenn er am Schluss, nach einer gründlichen Folterung grässlich verstümmelt, doch noch Rache nehmen kann, so geschieht das eher aus Versehen. Ist eh alles egal, da auch Jegors einzige Zuflucht, das gute alte, ländliche Russland, in dem er die Sommer seiner Kindheit verbrachte, längst an Investoren verscherbelt worden ist. Was einst das Paradies war, ist jetzt Reality Show. Der Name der Hauptfigur, Samochodow, übrigens bedeutet in etwa „Einer, der allein geht“. Im gegebenen Kontext ist es vielleicht gar nicht zu spitzfindig, hierin eine Anspielung auf die ehemalige Putin-Jugend „Die zusammen Gehenden“ („Iduschtschije wmestje“) zu sehen. Es war ebendiese Organisation, die Bücher von Wladimir Sorokin öffentlich ins Klo versenkte, bevor Surkow sie auflöste und zu den „Unseren“ („Naschi“) umfirmierte.
Hat er oder hat er nicht?
Es ist natürlich schwer zu sagen, ob man ebenso gefesselt wäre von „Nahe Null“, wenn man nicht vorab gefüttert worden wäre mit dem Rätsel um die Identität des Autors. Und fesselnd ist es über weite Strecken wirklich, auch wenn es insgesamt etwas geschwätzig ausfällt, zu verliebt in das Spiel mit den Anspielungen, wo es wirkungsvoller wäre, der Geschichte ein paar Geheimnisse zu lassen. Doch es besitzt einen beachtlichen zynischen Witz und einen selbstbewussten literarischen Ton. Nun ist Surkow durchaus schon als Schreiber hervorgetreten. Er hat Texte für eine Rockband verfasst, und er hatte unter eigenem Namen Kolumnen in der Zeitschrift Russkij pioner veröffentlicht, noch bevor „Okolonolja“ als Sonderausgabe ebendieser Publikation erschien.
Letztlich spielt es keine Rolle, ob er den Roman selbst geschrieben, ob ihn jemand nach seinen Ideen verfasst hat oder irgendetwas dazwischen. Ausschlaggebend ist der Wille, für den Autor gehalten zu werden. Diese kaum verhohlene Absicht ist schon dem durchsichtigen Pseudonym Natan Dubowitzki (Natalja Dubowitzkaja ist der Name von Surkows Frau) anzusehen. Auch mutet die Art und Weise, wie das Gerücht in den Medien zu allgemein gesicherter Erkenntnis wurde, wenig zufällig an. Der bekannte Schriftsteller Wiktor Jerofejew, der vorher niemals durch besondere Kremlnähe aufgefallen war, gab der regierungstreuen Literaturnaja gazeta ein Interview, in dem er erklärte, er sei sicher, dass kein anderer als Surkow der Autor von „Nahe Null“ sei. Er selbst besitze ein von diesem signiertes Exemplar des Romans. Damit war die Blase endgültig geplatzt. Alle, auch einige westliche Medien, nahmen das Thema auf. Jerofejew schrieb im Dezember einen großen Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, in dem er den Roman gleichzeitig pries, kritisierte und seine Überzeugung, Surkow sei der Autor, nochmals bekräftigte. Surkow seinerseits hatte zuvor eine ironische Besprechung des Buchs im Russkij pioner veröffentlicht, in der er seine Autorschaft auf eine Weise leugnete, die nur bedeuten konnte, dass er tatsächlich der Autor ist. Bis heute hat er sich nicht offiziell zum Roman bekannt.
Und der Sinn des Ganzen?
Die Rolle Wiktor Jerofejews als Zünder im Getriebe der Gerüchtemaschinerie ist zumindest bemerkenswert. Er ist es jetzt auch, den der Berlin Verlag, der deutschsprachige Verlag sowohl Jerofejews als auch Natan Dubowitzkis, deutschen Journalisten als Kronzeugen für die Hintergründe von „Nahe Null“ präsentiert. Offen genug erzählt Jerofejew unter anderem, dass er selbst sich um Kontakt zu Surkow bemüht habe, um seinem Bruder zu helfen. Der ist Andrej Jerofejew, der als Kurator für zeitgenössische Kunst des Tretjakow-Museums entlassen und vor Gericht gestellt worden war, nachdem er im Sacharow-Zentrum die Ausstellung „Verbotene Kunst“ organisiert hatte. Inzwischen nenne Surkow ihn „Wiktor“ und er Surkow „Slawa“, lässt Jerofejew ganz nebenbei fallen, schwärmt von der Aussicht aus dem Büro im Kreml, gibt großzügig Teile von geführten Gesprächen wieder, will aber nicht sagen, wie oft diese Gespräche stattgefunden haben.
Aber so viele lose Enden auch herumliegen, man kann die meisten davon wohl getrost liegen lassen, da letztlich doch nur die eine Frage interessiert: Warum? Es ist nicht ganz einfach zu erklären, wie ausgerechnet dieser Roman im Sinne des Kreml als, wie Ulrich M. Schmid in der Neuen Zürcher Zeitung vermutete, „Polittechnologie“ im Kampf für eine gesellschaftliche Erneuerung Russlands instrumentalisiert werden könnte. Und doch muss etwas Ähnliches dahinterstecken. Allein der Wunsch nach Unsterblichkeit, wie Jerofejew behauptet, kann es doch wohl kaum sein, der Surkow diesen Medienzirkus hat entfesseln lassen. Und wenn es wirklich so wäre, dass durch diesen Roman eine neue Wertedebatte in Russland angestoßen würde? Das würde sicher nicht schaden. Aber ob es dazu noch kommen kann, wenn die Spekulationen um die Identität des Autors die öffentliche Aufmerksamkeit schon so beschäftigt haben, das ist hier die Frage.
■ Natan Dubowizki: „Nahe Null“. Berlin Verlag, 2010, 223 Seiten, 22 €