Grüne vor der Abgeordnetenhauswahl: Die Vision der Renate Künast
Die grüne Spitzenkandidatin wirbt für einen neuen Politikstil: Lösungssuche mit Betroffenen vor Ort. Kann sie dieses Versprechen einlösen?
Visionen. Renate Künast steht dazu. Anders als vom Uraltkanzler Helmut Schmidt einmal behauptet, müsse sie deshalb auch nicht zum Arzt, meint die Spitzenkandidatin der Grünen. Im Gegenteil. "Ich bin Visionärin!", verkündete Künast kürzlich bei einer Podiumsdiskussion. Und fügte dann hinzu: "Ohne Visionen weiß ich nicht, wohin ich fahren soll!"
Hätte man sich in den 80er Jahren vorgestellt, dass die Grünen die Macht in Berlin übernehmen würden, wäre die Vision klar gewesen. Die Stadt hätte so ähnlich ausgesehen, wie sie sich der Comic-Zeichner Seyfried damals vorgestellt hatte. Bunt. Freakig. Schafe im Tiergarten. Kiffer im Park. Kreuzberg rules the world. Radikal anders auf jeden Fall als das real existierende Berlin.
Als die Alternative Liste, wie die Grünen hier damals noch hießen, 1989 dann erstmals in den Berliner Senat gewählt wurden, sorgten sie tatsächlich für einschneidende Änderungen: Busspuren auf dem Kudamm. Tempo 100 auf der Avus. Was heute banal klingt, wurde damals von einem großen Teil der Berliner als Affront gewertet. Wochenlang demonstrierten sie mit Autokorsos durch das irritierte Westberlin. Teile der veränderungsscheuen Demonstranten sahen ihre Stadt schon eingemeindet in die DDR. Und das nur wegen ein paar neuen Verkehrsregeln. Revolutionärer kann Realpolitik kaum wirken.
In drei Monaten, am 18. September, wird das Abgeordnetenhaus neu gewählt. Die taz stellt daher die Parteien auf den Prüfstand. Heute: die Grünen.
Stand: Laut Umfragen kommen die Grünen derzeit auf 25 bis 27 Prozent. Das wäre etwa doppelt so viel wie bei der Wahl 2006.
Kandidatin: Renate Künast.
Programm: Eine für alle.
Problem: Verlangen die Grünen nach der Wahl zu viel, kann die SPD mit der CDU koalieren.
Optionen: Grün-Schwarz (schwierig für Parteibasis), Rot-Grün (Künast bleibt außen vor), Grün-Rot (unwahrscheinlich).
Morgen im Test: die Linkspartei.
Ähnlich stadtverändernde Eingriffe sind heute von den Grünen nicht mehr zu erwarten. Und das nicht nur, weil außer Christian Ströbele kaum jemand in der Partei noch auf die Idee käme, mit Seyfried-Comics zu punkten. Vor allem weil sich die Stadt selbst - gerade in den letzten zehn Jahren unter der rot-roten Koalition - verändert hat. Sie ist bei Weitem nicht perfekt. Arbeitslosigkeit, S-Bahn-Chaos, Mietenexplosion. Es gibt jede Menge unbewältigter Probleme. Doch von einer radikalen Wechselstimmung, wie man sie 1989 in Westberlin oder zuletzt im Frühjahr in Baden-Württemberg spüren konnte, ist Berlin weit entfernt.
Selbstverständlich haben sich auch die Grünen verändert. Wenn sie, um bei der Verkehrspolitik zu bleiben, ähnliche Marken setzen wollten wie 1989, müssten sie Hauptverkehrswege in Fahrradstraßen umwandeln, auf denen dann wiederum Autospuren eingerichtet werden. Das mag spinnert klingen. Aber es wäre ein Perspektivwechsel. Grundsätzlicher Vorrang für Radfahrer vor dem motorisierten Verkehr, das wäre eine echte Alternative zur bestehenden Verkehrspolitik. Eine Vision.
Doch die Grünen sehen sich heute als Partei für alle. Da tut man sich schwer, einem Großteil der potenziellen Wähler auf die Füße zu treten. Die grüne Verkehrsexpertin Claudia Hämmerling hat gerade ihren "Masterplan zur Beschleunigung von Bussen und Trams" vorgestellt. Es geht um Vorrangschaltung an den Ampeln, eine computergesteuerte Verkehrslenkung. Das ist gut und richtig. Überfällig. Vielleicht sogar modern. Aber.
Wenn man in den letzten Monaten mit Renate Künast über ihre Kandidatur als Regierende Bürgermeisterin der größten Stadt der Republik geredet hat, kam sie meist schnell auf ihr Lieblingsthema: die Agrarreform. Ob im persönlichen Gespräch, bei Talkshows im TV oder bei Podiumsdiskussionen, stets erinnert sie gern an ihre Erfolge als Ministerin in der rot-grünen Bundesregierung. Ihren Kampf gegen die Rinderseuche BSE. Bei ihrem Amtsantritt im Januar 2001 hatte sie eine Marke gesetzt. Aus dem Landwirtschaftsministerium ihres Vorgängers machte sie das Verbraucherschutzministerium. Ein Perspektivwechsel, der noch im letzten Winkel der Republik verstanden wurde.
Lange Zeit ist es der Bürgermeister-Kandidatin schwer gefallen, zu erklären, wie sie Ähnliches im Roten Rathaus erreichen will. Sicher, sie hat Schlagworte zur Hand. E-Mobility. Klimaschutz, natürlich. 100.000 neue Arbeitsplätze. Industriepolitik. Bildung, Bildung, Bildung. Doch in der Behauptung, dass sie die Beste wäre, um Fortschritte auf diesen Themenfelder zu erzielen, gleicht Künast der politischen Konkurrenz.
Wirklich anders ist nur der Handlungsstil, den Künast verspricht. Ein Wechsel in der politischen Kultur soll es sei. Drei Monate vor der Wahl hat sie ein Bild gefunden, um zu verdeutlichen, was sie damit meint. "Ich bin nicht die, die mit dem Hammer auf den Tisch haut", sagt Künast. "Ich gehe mit Tisch und Stuhl durch die Stadt." Sie will sich mit den Leuten vor Ort zusammensetzen. Probleme diskutieren. Lösungen suchen.
Das ist die Vision der Renate Künast.
Je nach Sichtweise kann man diese Vision als Floskel abtun. Oder als großes Versprechen einer zeitgemäßen Politik in einer bürgerbewegten Demokratie werten. Die Frage ist: Kann Künast dieses Versprechen einlösen? Kann sie zumindest die Wähler davon überzeugen, dass die Grünen es ernst meinen?
Unterschiedliche Ansätze für von den Grünen verantwortete Politik waren zuletzt in zwei Bezirken zu beobachten. In Pankow vergrätzt der Bezirksstadtrat Jens-Holger Kirchner mit kolossaler Sturheit die Anwohner der Kastanienallee, die den Umbau ihre Straße nicht akzeptieren wollen. In Friedrichshain-Kreuzberg umschmeichelt Bezirksbürgermeister Franz Schulz die begehrenden Bürger so sehr, dass er gern mal kurzfristig die Meinung wechselt. Künast dürfte irgendwo dazwischen liegen.
Klar ist nur eins: Umsetzen könnte sie ihre Vision nur als Regierende Bürgermeisterin. Dafür muss sie entweder die CDU für diesen Politikstil gewinnen. Oder die SPD am 18. September schlagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Koalitionsvertrag in Brandenburg steht
Denkbar knappste Mehrheit
Verfassungsrechtler für AfD-Verbot
„Den Staat vor Unterminierung schützen“