Gründlich mißverstanden

■ Amnon Reuveni über die Auseinandersetzung um Rudolf Steiners angeblichen Rassismus und die Reaktionen der anthroposophischen Gemeinde: Große Sprachlosigkeit als Antwort

taz: Mit Vorwürfen gegen Rudolf Steiner hat sich die Anthroposophie schon oft auseinandersetzen müssen, zum Beispiel mit Kritik an angeblich rassistischen Äußerungen und auch mit der Behauptung, Steiner sei Antisemit gewesen. Wie beurteilen Sie diese Auseinandersetzungen?

Amnon Reuveni: Ganz allgemein gibt es zwei Kategorien von Vorwürfen gegen Rudolf Steiner: Die erste kommt von Menschen, die berechtigte Fragen zu seinem Werk haben. Diese Leute stoßen bald auf die unter Anthroposophen sehr weit verbreitete Unfähigkeit, sich frei von Zitaten und Dogmen zu solchen Fragen zu äußern. Da wird sofort eine Art von generellem Unbehagen gegen bestimmte Fragestellungen deutlich. Die andere Art von Vorwürfen kommt von Menschen, die sich systematisch solche Stellen aus Steiners Werk, die problematisch scheinen oder es tatsächlich sind, heraussuchen und diese dann für ihre Kampagnen gebrauchen. Damit kann man ja dem Ruf von anthroposophischen Institutionen wie etwa den Waldorfschulen erheblichen Schaden zufügen und somit einiges Aufsehen erregen.

Auf welche Textstellen und Aussagen gründen sich solche Vorwürfe zum Beispiel?

Ein Beispiel insbesondere für den Antisemitismus-Vorwurf ist ein Beitrag von Julia Iwersen, der 1996 in der Zeitschrift „Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart“ erschien. Frau Iwersen begründet ihre Kritik auf eine Weise, die ich für inakzeptabel halte: Sie nimmt ein Steiner-Zitat, trennt es in der Mitte und verwendet es dann gegen ihn. Sie schreibt nämlich, in einem Vortrag vor Arbeitern vom 8. Mai 1924 „drückte Steiner noch deutlicher aus, worum es ihm ging: die jüdische Verantwortung für den 1. Weltkrieg“. Steiner hatte in Wirklichkeit den Nationalismus der europäischen Völker als Ursache für den Krieg bezeichnet und bedauert, daß auch die europäischen Juden mit der damals noch kleinen Bewegung des Zionismus sozusagen die anderen Völker nachahmten und ebenfalls eine Art Nationalismus entwickelten. Er sagte wörtlich: „Sehen Sie, meine Herren, daß die Menschen die großen allgemeinmenschlichen Prinzipe nicht mehr wollen, sondern sich absondern, Volkskräfte entwickeln wollen, das hat eben gerade zu dem großen Krieg geführt! Und so ist das größte Unglück dieses 20. Jahrhunderts gekommen von dem, was die Juden auch wollen“, Betonung auf „auch“. Frau Iwersen zitiert nur den zweiten Satz, so daß man denkt, Steiner würde die Juden für den Krieg verantwortlich machen.

Ähnlich sehe ich auch die Kampagne der Gruppe „Kinder des Holocaust“, die in letzter Zeit für Aufsehen sorgte. Dem jüdischen Anthroposophen Ludwig Thieben wird wegen seines vor 70 Jahren erschienenen Buches „Das Rätsel des Judentums“ Antisemitismus vorgeworfen, weil er sich an verschiedenen Stellen auf christliche Dogmen bezogen und in seiner Identität als „assimilierter Jude“ sehr mit sich gerungen hat. Thieben ist selbst ein Opfer des Holocaust, mußte sich jahrelang in Holland verstecken und starb kurz nach dem Krieg an den Folgen dieser Tortur. Ich finde, eine solche Kampagne zeugt von wenig Sensibilität im Umgang mit Opfern des Holocaust.

Es ist aber unter Anthroposophen schon beinahe eine Standardreaktion auf Kritik, daß man sagt: Zitate Steiners oder anderer anthroposophischer Autoren wurden aus dem Kontext gerissen. Das mag oftmals so sein, aber ist nicht auch die Bereitschaft, sich mit solcher Kritik inhaltlich auseinanderzusetzen, zu gering?

Schon zu Lebzeiten Rudolf Steiners war die Neigung unter Anthroposophen sehr verbreitet, sich sozusagen in ihrer eigenen Welt abzuschließen und auf jede Stimme aus der „Außenwelt“ – ein unsinniger Begriff, denn die Anthroposophen lebten immer mitten in dieser Welt – mit einer gewissen Irritation zu reagieren. Diese Neigung gibt es leider bis heute, was dazu führt, daß anthroposophische Institutionen oft auch auf berechtigte Kritik sehr sprachlos reagieren. Allerdings geht solch konstruktive Kritik auch meist zwischen den aufsehenerregenden, scheinwissenschaftlichen Attacken im Stile des „Babylon“-Artikels unter.

Es werden aber doch auch innerhalb der aktuellen anthroposophischen Literatur Positionen vertreten, die, vorsichtig formuliert, ganz am rechten Rand des politischen Spektrums liegen.

Das ist ein zusätzliches Problem, daß nämlich in manchen anthroposophischen Kreisen tatsächlich die Neigung zu rassistischem Denken verbreitet ist. Auch hier werden bestimmte Zitate Steiners mißdeutet. Ein besonders krasser Fall ist Werner Georg Haverbecks Buch „Rudolf Steiner. Anwalt für Deutschland“, aber es gibt eben leider auch andere Beispiele. Das heißt, auch innerhalb der anthroposophischen Kreise gibt es Leute, die Steiner gerne als Rassisten sehen würden, die ihn und seine Weltsicht überhaupt nicht verstanden haben – denn ihm ging es ja gerade darum, daß die Aufteilung der Menschen in Völker, Rassen, Staaten möglichst bald verschwinden muß.

Das gleiche behaupten Leute wie Haverbeck wahrscheinlich von Ihnen: daß Sie die Lehre Steiners nicht verstanden haben. Derartige Diskrepanzen würden andere gesellschaftliche Bewegungen bald zur Spaltung treiben. Wieso passiert das bei der Anthroposophie nicht, warum distanziert man sich nicht voneinander?

Bei Haverbeck ist das ja passiert, und mit Figuren dieser Art gibt es schon lange keine Berührungspunkte mehr. Wobei ich sagen würde, daß hinter seiner Interpretation Steiners mindestens ebensoviel unlautere Absicht steckt wie bei bestimmten, unseriösen Kritikern. So gründlich kann man Steiner eigentlich sonst gar nicht mißverstehen.

Es gibt in diesen Debatten aber außerdem auch regionale Unterschiede: Ich zum Beispiel habe Steiner erstmals auf Hebräisch gelesen, in einem Kibbuz in Israel. Dort studierten Juden zusammen mit Beduinen und Palästinensern anthroposophische Themen, und das Thema Rassismus hat überhaupt keine Rolle gespielt; die Kritik in Israel richtet sich viel eher gegen die angebliche Nähe der Anthroposophie zu den christlichen Konfessionen.

In Holland hat kürzlich eine von der Anthroposophischen Gesellschaft beauftragte Kommission einen ersten Bericht vorgelegt, der Steiners Schriften auf rassistische und diskriminierende Passagen untersucht. Was halten Sie von diesem Versuch?

Ich finde es grundsätzlich sehr begrüßenswert, daß man sich aktiv und bewußt damit auseinandersetzt, eben weil es auch unter Anthroposophen sehr viele Mißverständnisse gibt. Ich selbst stand beispielsweise schon oft vor dem Problem, daß manche Äußerungen Steiners gegen den Zionismus, die er vor hundert Jahren gemacht hat, von vielen Anthrophosophen ohne diesen besonderen Zeitbezug angeführt werden.

Wie beurteilen Sie den Vorschlag der Kommission, bestimmte Stellen aus dem Werk künftig nur noch kommentiert zu veröffentlichen?

Ich finde, Kommentare sind überhaupt eine sehr wichtige Sache, und gerade bei diesen schwer nachvollziehbaren Stellen sollte man mehr achtgeben, daß die Hinweise möglichst viele Mißverständnisse beseitigen werden.

Würde das die Auseinandersetzung von Nicht-Anthroposophen mit Steiners Texten erleichtern?

Ja, natürlich. Nehmen wir das berühmte Beispiel mit dem „Negerroman“: Ausführliche Kommentare dazu, was für ein Buch genau gemeint war, wer der Autor war und in welcher Situation Steiner diese Äußerung getan hat – nämlich in einem Vortrag vor wenigen Zuhörern und ohne daran zu denken, diese Ausführungen jemals zu veröffentlichen – würden die Auseinandersetzung sicher versachlichen.

Interview: Jochen Siemer