Grün-Rot schiebt Roma ab: "Wir müssen jeden Einzelfall prüfen"
Baden-Württembergs grün-rote Landesregierung will wieder Roma ins Kosovo abschieben. Der grüne migrationspolitische Sprecher, Memet Kilic, fordert dafür strenge Kriterien.
taz: Herr Kilic, in Baden-Württembergs herrschte für Roma aus dem Kosovo ein faktischer Abschiebestopp, die grün-rote Landesregierung hebt ihn nun auf. Was ist da los?
Memet Kilic: Wir Grünen wissen um die prekäre Lage der Minderheiten im Kosovo. Aber um einer Volksgruppe eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu gewähren, muss das Bundesinnenministerium damit einverstanden sein. Dieses Okay gibt es derzeit nicht.
Also ist Grün-Rot in Baden-Württemberg gezwungen, Roma ins Kosovo abzuschieben?
Ja, zumindest in einigen Fällen. Das Aufenthaltsgesetz besagt, dass für Abschiebestopps von mehr als einem halben Jahr die Zustimmung des Bundes und aller Länder nötig ist.
Die Grünen in Baden-Württemberg wollten das aber nicht akzeptieren. Deshalb suchten sie mit dem Landespetitionsausschuss kürzlich selbst Beweise für die schlechte Lage der Minderheiten im Kosovo. Was fanden Sie vor?
ist migrationspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag. Seit 2009 sitzt er für den baden-württembergischen Wahlkreis Pforzheim im Parlament.
Solche Reisen sind voll gestopft mit offiziellen Programmpunkten. Vier Tage reichen nicht, um festzustellen, ob Abschiebehindernisse vorliegen. Deshalb müssen auch Berichte von NGOs einbezogen werden. Das UN-Flüchtlingshilfswerk und andere Organisationen haben aktuell Beweise für die wirtschaftliche Not und gesellschaftliche Diskriminierung der Roma und anderer Minderheiten im Kosovo vorgelegt. Diese Menschen haben dort keine Lebensperspektive. Wenn eine Landesregierung eine eigene Entscheidung über Abschieberegelungen treffen will, muss das schon einfließen. In Baden-Württemberg werden die Grünen auf die Situation im Kosovo jetzt verstärkt bei Einzelfallprüfungen schauen.
Im rot-grün regierte Nordrhein-Westfalen hat sich das nicht bewährt, es wird weiter kräftig ins Kosovo abgeschoben. Werden die Grünen damit nicht unglaubwürdig?
Wenn ein rot-grün-regiertes Land ähnliche Abschiebebilanzen aufweist wie das schwarz-gelbe Niedersachsen, dann ist das bedenklich. In Nordrhein-Westfalen sind Alte, Kranke oder Alleinerziehende weitestgehend vor Abschiebungen geschützt. In Baden-Württemberg sollten die Kriterien der Einzelfallprüfung noch weiter gefasst werden, man muss auch die Chancen auf wirtschaftliche Teilhabe berücksichtigen. Drei von vier rückgeführten Romakindern gehen im Kosovo nicht zur Schule, die Arbeitslosigkeit liegt bei 90 Prozent. Personen ohne fertige Ausbildung oder albanische Sprachkenntnisse haben null Perspektive. Sie sollten von der Abschiebung ausgenommen sein.
Die baden-württembergische SPD will die Möglichkeiten ausdehnen, dass Familien ein Bleiberecht bekommen können, wenn die Kinder gut in der Schule sind. Ist das gut?
Das wäre Sippenhaft: Das Kind würde sich lebenslang schuldig fühlen, wenn seine Familie gehen musste, weil es nicht gut genug in der Schule war. Erfolg in unserem Bildungssystem, das Migranten nach wie vor stark benachteiligt, kann kein Kriterium für ein Bleiberecht sein.
Wie muss das Bleiberecht reformiert werden?
Die Innenminister der Länder und des Bundes müssen sich für alle Flüchtlinge auf eine humane Regelung einigen, die unabhängig von Stichtagen funktioniert. Es darf nicht mehr verlangt werden, dass Geduldete mit einem Aufenthaltsrecht auf Probe den eigenen Lebensunterhalt sichern müssen, um ein langfristiges Aufenthaltsrecht zu bekommen. Daran scheitern viele Roma, die durch Vorurteile bei der Jobsuche benachteiligt sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht