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■ Großes Familientreffen mit verlorenen Pumps und Eckes EdelkirschDia-Abend bei Helga und Gerhard

Eigentlich habe ich nur zugesagt, weil solche Veranstaltungen eine Menge schlechten Stoffs für eine Menge guter Geschichten liefern. Oder umgekehrt. Übrigens kenne ich niemanden, denn es ist nicht meine Verwandtschaft, sondern die der Untermieterin. „Das merkt keiner“, hatte sie mir versichert, „letztes Mal bin ich als meine Kusine angetreten, das haben die auch nicht geschnallt.“

Familientreffen – Gott – wann war ich zuletzt auf einem... muß Jahrzehnte her sein, meistens fand es bei Tante Betty und Onkel Werner statt. Betty hatte ununterbrochen eine Kippe im Mundwinkel, auch beim Kochen und Stricken. Werners Brüder saßen alle auf Bauernhöfen, die waren vielleicht begeistert... Später sah man sich ja nur noch auf Beerdigungen, da sagte sie immer Sachen wie „Kind, ißt du auch genug? Du siehst ja leichenblaß aus. Lei-chen-blaß!“

In Helgas und Gerhards Reihenhaus lungern schon zehn, fünfzehn Verwandte herum. Geschrei, großes Hin und Her, „Sie sind daa!!“ Umarmungen, Händeschütteln. „Bist du nicht... ich kenn' dich noch, da warst du sooo klein...“ Eine Höhe von fünf Zentimetern wird angedeutet. „Und das hier ist Anneke, unsere Hochschulabsolventin!“ Tja, dann heißt es „unsere“. Als Edith sich damals scheiden ließ, hieß es ja immer „Hertas Älteste“.

Helga ist ein Pumps abhanden gekommen, Gerhard ist genervt, aber beherrscht, hat alles im Griff. Stühle. Es fehlen noch Stühle. Helga kümmert sich ja um NICHTS. „Gisela!“ Ich werde von hinten gepackt. Gisela? Warum eigentlich nicht? Immer noch besser als Edeltraud.

„Komme gerade aus Frankfurt“, improvisiere ich, „Mutti läßt grüßen, sie konnte nicht, ihre Arthritis...“ „Die Arme – und was macht ihr Zucker?“ Ich ziehe vielsagend die Schultern hoch. „Hattest du eigentlich schon immer so helle Haare? – Na, laß man, man wird nicht jünger.“ Jetzt zusammenreißen, immer an das unbestechliche Auge der versierten Beobachterin denken.

Ich sehe mich nach einem Sitzplatz um. Evi legt noch letzte Hand ans Büfett. Gerhard bietet auf einem Tablett Gläschen mit Eckes Edelkirsch an. Eckes Edelkirsch – ist der überhaupt noch frei verkäuflich? Oder fällt der nicht schon unters Betäubungsmittelgesetz? Gerade soll es losgehen, nur Helga hühnert noch herum und sucht ihren Pumps, da rauscht Frau von W. herein, die Nachbarin von Helga und Gerhard, in Begleitung eines gewissen „Herrn Reinhold“. Solche kalkulierten Auftritte hatte Großtante Mimi früher auch immer drauf. Und solche Pelzhüte und die Nase immer hoch, dabei kam sie auch bloß vom Lande; hatte sich allerdings hochgearbeitet bis zur Schneider-Innungsmeisterin in P. Einmal hat sie angeblich vom Zug aus den Führer gesehen...

Es geht immer noch nicht los, Nachzügler tröpfeln herein. „Blumen bei Helga abliefern!“ – „Hast du immer noch diese häßliche Brille?“ – „Was ist eigentlich mit Onkel Franz?“ „Der ist doch tot!“ „Ach was!“ – „Es fehlt noch Tante Hildegard.“ „Was, Erbtante Hildegard lebt noch?“

Die käme nicht, läßt sich nun ein junger Mann, Cousin Stefan, vernehmen. Sie sei im Krankenhaus und... Waswaswas – die war doch nie krank! „Kann sie noch unter... ich meine, kann sie noch schreiben?“ Und wie ist Stefan überhaupt hierhergekommen, mit der Bahn? – Mit Hildegards Porsche. Aber nicht überschrieben, wie gleich scharf nachgefragt wird, sondern nur geliehen. Immerhin, das gibt zu denken.

Nun aber die Dias. Zankereien über Entstehungsgeschichte und Jahreszahlen werden von Pscht- Rufen übertönt, leben wieder auf an der Frage, ob irgendwer jünger oder älter aussieht... so ziehen Menschen im In- und Ausland, in Städten, Dörfern, Tälern und Höhen an uns vorbei mit den üblichen Erläuterungen „Da sind wir über die Berge gelaufen. Da ham wir was gekuckt. Da ham wir Pause gemacht.“ „Der da rechts in Schwarz, das ist der Steuerberater von Hildegard.“ Frau von W. will was sagen, es ist aber einfach zu laut. „Frau von W., würden Sie bitte mal Ihr Organ anheben?“ Gerhard, der feinfühlige Organisator, hat ein Gespür dafür, wann es Zeit für eine Unterbrechung ist bzw. für einen Wechsel der kulturellen Darbietungen.

Unsere Hochschulabsolventin spielt nun auf dem Piano das Stück, das sie zur Prüfung vorgespielt hat. Anneke hat ein Kleid an, dessen Anblick einen außerhalb von Familienfeiern blind machen würde. Sie verspielt sich und ist nervös. „Anneke, sei doch nicht so nervös!“ Riesiger Beifall. Jetzt Dias aus Griechenland, wo Tante Nellie mit Evi ihren Urlaub verbracht hat. Jede Menge unscharfer Säulen und Statuen ohne Arme. „Das ist auch wertvoll, trotzdem es so kaputt ist.“

„Und das ist ein seltenes Foto von der Callas, wie sie gerade...“ Evi: „Und das – wartet mal, das war in... Dings... so wie der Grieche bei uns in Henstedt-Ulzburg heißt... da hat Nellie einen Herrn kennengelernt, der war auch so belesen wie sie...“ „Hörthört!“ Nellie: „Früher kam die Kultur aus Griechenland, nicht aus Amerika, wo ja heute alles besser sein soll.“ Dann endlich die Büfett-Eröffnung – „Herr Reinhold langt aber ordentlich zu, was?“ – und die Polonäse mit Rex Gildo und der Fiesta Mexicana (Hossa!), Mikaela-aha und Tanze Samba mit mir. Helga hat endlich ihren Pumps gefunden.

Ich wanke zur S-Bahn. Hans- Hermann hat mich doch ziemlich rumgeschwenkt, dazu der Edelkirsch... schnell ins Bett jetzt ... aber vorher noch Mutti anrufen, die will doch immer alles haarklein... Moment mal – ist doch gar nicht meine Familie und... ist Mutti nicht sowieso 82 gestorben? Fanny Müller

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