■ Größter Sozialabbau in der BRD-Geschichte : Konturen eines Klassenstaates
betr.: „Deutschlands neue Hoffnung: Kranke, Alte, Arbeitslose“, taz vom 15. 3. 03, „Kanzler will beim Kürzen nichts mehr kippen“, taz vom 17. 3. 03, „Kanzler hält Debatte für beendet“, „Hunderttausende von Kürzungen betroffen“, taz vom 18. 3. 03, „Faulheitsdebatte Nr. 5“, taz vom 20. 3. 03
„Wir alle“, so sprach der Kanzler, „müssen uns auf schmerzhafte Reformen einstellen.“ Kaum war dieser Satz verklungen, konnten sich die Reichen und Vermögenden allerdings beruhigt zurücklehnen – eine Vermögenssteuer wird es in diesem Land auch zukünftig nicht geben, sie sind also nicht gemeint.
Gemeint sind vielmehr diejenigen, die ohne Arbeit sind und durch Absenkung ihres Arbeitslosengeldes bzw. ihrer Arbeitslosenhilfe eine erneute Verschlechterung ihrer Lage hinnehmen müssen. Die Koalition aus SPD und Grünen schafft es auf diese Weise, die Privilegien der Reichsten in diesem Lande zu wahren und auszubauen und die Kluft zwischen Besitzenden und Armen zu vergrößern. Wer hätte je voraussagen können, dass ausgerechnet durch tätige Mithilfe der SPD die Konturen eines Klassenstaates wieder deutlich hervortreten! DIETER BORNKAMP, Hamburg
Wenn SPD und Grüne jetzt beweisen, dass sie tiefere „Einschnitte in den Sozialstaat“ durchsetzen können als CDU-FDP-Regierungen, und beispielsweise die Arbeitslosenhilfe praktisch abschaffen, dann kann man es sich als Lohn- oder Leistungsempfänger endgültig nicht mehr leisten, sie zu wählen.
ANNITA NUEHM, Bremen
Es ist bedauerlich und erschreckend zugleich, wie selbstherrlich und selbstverständlich ein parteiübergreifender Konsens zum größten Sozialabbau der Geschichte der BRD als notwendige Reform hingestellt wird. Niemand scheint sich noch an eine positive, sozial ausgeglichene Zukunftsvision heranzutrauen. Was heute zählt, heißt Anpassung an die globalen Kapitalismusanforderungen: die Spirale nach unten für einen großen Teil der Bevölkerung. […] Das ewige Argument der Flexibilität und der Lohnkostensenkung führt im Osten der Republik höchstens zu Billigjobs, Abwanderung und endet immer häufiger im sozialen Aus. Alkoholiker und ältere Menschen sind mittlerweile nicht selten das prägende Bild in weiten Landstrichen. Es werden immer mehr und der Frust steigt. Gleichzeitig werden diese Menschen unter immer mehr Druck gesetzt, sich zu bewegen (von ihren Freunden und Verwandten, ihren Wurzeln weg), sich billigst zu verkaufen, obwohl es nicht mal dafür genügend bezahlte Stellen gibt.
40 bis 60 Prozent der Kosten in unserem Sozialsystem gehen in die Bürokratie, in die Kontrolle und in unsinnigste Maßnahmen zur Einschüchterung der BürgerInnen. Die scheinbare Gerechtigkeit durch tausende Einzellfallregelungen führt häufiger zu Ungerechtigkeit und dazu, dass viele, abgeschreckt, ihre Rechte gar nicht mehr wahrnehmen. Warum findet keine Diskussion um ein Existenzgeld für alle NichtverdienerInnen statt? Warum werden Versicherungsleistungen nicht in steuerfinanzierte Existenzgelder umgewandelt. […] Die Idee könnte mit wenig Bürokratie und vernünftiger ausgleichender Besteuerung funktionieren, sie wäre sogar berechenbarer. […] TINO KRETSCHMANN, Berlin
Sie schrieben: „Nach den bisherigen Plänen sollen Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II zusammengefasst werden, das auf der Höhe des bisherigen Sozialhilfeniveaus liegt. Dieses beträgt 640 Euro pro Monat inklusive Wohnkosten.“ Das ist falsch. Der Sozialhilfesatz in Deutschland beträgt 294 Euro für den Haushaltsvorstand. Hinzu kommen Wohnkosten bis zur Höhe von etwa 400 Euro. Wer mehr Kosten hat, kann dann leider, leider mit dem Ofenrohr ins Gebirge gucken. Wer weniger Kosten hat, bekommt dann aber auch nicht automatisch 640 Euro.
[…] Sollten die so genannten Reformpläne wirklich ungesetzt werden, wird es mit einem Schlag in diesem Lande zirka drei Millionen am Existenzminimum lebende Arme mehr geben. Und deren Zahl wird sicher noch in den nächsten Jahren steigen. Das scheint ja wohl überhaupt keinen Skandal mehr wert zu sein, denn die von diesen Kürzungen Betroffenen werden dann natürlich und sicherlich die ach so marode Konjunktur mit ihrem üppigen Sozialhilfesatz prächtig und mächtig ankurbeln?
Und die, die heute arbeitslos werden, und die in einem Jahr dann auch nur noch 294 Euro zum Ausgeben haben, die werden dann das, was sie noch bekommen, mit vollen Händen unter die Leute bringen, statt sich für ihre unsichere Zukunft ein kleines Polster anzulegen? Der positive Effekt – der hier wohl überlegt nicht ganz oben genannt wird – ist, dass die Arbeitslosen endlich aus der Statistik verschwinden. In einem Jahr, wenn diese „Reformen“ durchgepaukt sind, gibt es nur noch zirka zwei Millionen Arbeitslose, der Rest krepelt am Existenzminimum. Problem unsichtbar gemacht, Statisik bereinigt, Programm erledigt. So schaut das aus. M. DÄUWEL, Berlin
Die erneut einsetzende Diffamierung der Arbeitslosen durch einen SPD-Politiker macht deutlich, dass sich diese Partei um 180 Grad gedreht hat, seit sie an der Macht ist. Der Name SPD stand einmal für den Begriff der Aufklärung im Sinne eines geschichtlichen Fortschritts von Bewusstsein. An die Stelle der Einbildung sollte wirkliches Wissen treten, das in der Erkenntnis von Zusammenhängen besteht. Durch Demagogie, welche die Opfer von permanent anhaltenden Entlassungen (Banken und Sparkassen etwa planen die Halbierung ihrer Filialen) zu Tätern stempelt, hat die SPD einen Rückschritt in voraufklärerische Zeiten vollzogen. Sie erklärt damit den Arbeitslosen den Krieg, nutzt Propaganda als Mittel, so wie Bush und Konsorten die Propaganda nutzen, um einen Angriffskrieg in einen Verteidigungskrieg ummünzen zu können. Es gibt in unserem Land eine Allianz der sozialen Kälte, in der die Alliierten nicht Bush und Blair, sondern Schröder und Stoiber heißen. KLAUS BAUM, Kassel
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