■ Größe und Elend des humanitären Völkerrechts: „Nie wieder?!“
1994 wird als das Jahr in die Geschichte der Vereinten Nationen eingehen, in dem das humanitäre Völkerrecht neu entdeckt wurde. Bei den Interventionen im irakischen Teil Kurdistans und in Somalia beriefen sich die Vereinten Nationen auf ein neuartiges „Recht auf humanitäre Einmischung“. Begründet wurde die Anwendung dieser internationalen Zwangsmaßnahme rechtlich weiterhin mit der „Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ und nicht mit dem Leiden der Zivilbevölkerung. Angesichts der Vorgänge in Ex-Jugoslawien und in Ruanda entdeckt die UNO das humanitäre Völkerrecht wieder und fordert seine Anwendung. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat der UN-Sicherheitsrat einen Internationalen Strafgerichtshof geschaffen, der über die Verantwortlichen für die schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts im ehemaligen Jugoslawien richten soll. Dieselbe Lösung ist bereits für Ruanda im Gespräch.
Wenn das politische Organ der internationalen Gemeinschaft sich plötzlich zum humanitären Völkerrecht bekehrt, ist Freude, zugleich aber auch Vorsicht angebracht. Die großen juristischen Werkzeuge des „Nie wieder!“, mit denen sich die UNO zwischen 1945 und 1949 ausgestattet hat, sind vierzig Jahre lang nicht benutzt worden.
Die Berufung auf dieses Recht ist die eigentliche Waffe der internationalen Gemeinschaft geworden: das Gewicht der Worte gegen den Schock der Bilder. Man klammert sich an humanitäre Prinzipien, um sowohl die Konflikte zu humanisieren, wie auch die Kriegsverbrecher abzuschrecken und der mitten in der Umgestaltung begriffenen internationalen Gemeinschaft gleiche Bedingungen zu bieten. Aber die Berufung auf das humanitäre Völkerrecht wirkt immer höhnischer. Die einzige Macht dieses Rechts ist die der Worte. Die UNO verabschiedet Resolutionen, ohne die Mittel für ihre Durchführung vorzusehen und ohne diejenigen zu sanktionieren, die für ihre Nichtdurchführung verantwortlich sind.
Im ehemaligen Jugoslawien hat die UNO-Maschinerie in den dreieinhalb Jahren seit Ausbruch des Konflikts gezeigt, daß sie zwar juristische Reden führen, aber weder in Aktion treten noch Gerechtigkeit schaffen kann. Selbst zweieinhalb Jahre nach Feststellung der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und eineinhalb Jahre nach Schaffung des Internationalen Gerichtshofs höhlen Straffreiheit und Untätigkeit die Prinzipien immer weiter aus. Ungeachtet der vernebelnden Reden gab es „ethnische Säuberungen“, die im Detail nachgewiesen wurden, die immer noch stattfinden und ungestraft bleiben. Kurz, das Unzulässige wird zugelassen. Wenn aber die Worte der Wirklichkeit nicht mehr entsprechen, haben sie auch keinen Sinn mehr.
Die Aktion der Vereinten Nationen in Ruanda hat die rhetorische Unanständigkeit der UNO- Resolutionen vollends deutlich gemacht. Vier Monate lang verabschiedet die UNO eine Resolution nach der anderen und würdigt darin die Ausdauer der 270 machtlosen Blauhelme vor Ort. Diese Selbstgefälligkeit darf nicht verschleiern, daß diese Truppen unterlassene Hilfeleistung an all jenen begangen haben, die starben, während sie zu Hilfe riefen. Die UNO ist die einzige Armee der Welt, die Gewaltanwendung im voraus ankündigen muß.
Inzwischen versucht die UNO, auf dem Feld des Rechts die Schlacht zu gewinnen, die sie auf dem Feld von Leben und Tod verloren hat. Am 28. Juni 1994 legte der Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission seinen Untersuchungsbericht und sein Urteil vor: Die Opfer sind an Völkermord gestorben und auch an der unterlassenen Hilfeleistung der UNO vor Ort. Das im Jugoslawien-Konflikt eingeübte juristische Schattenspiel wird erneut aufgeführt. Während bestimmte Länder und Völker kollektiv der Vernichtung preisgegeben werden, forscht die UNO nach den Grundlagen für einen neuen gesellschaftlichen Frieden. Aus der Debatte über eine internationale Justiz und eine Bestrafung der Kriegsverbrecher soll ein neuer internationaler Gesellschaftsvertrag hervorgehen, der die Mindestregeln für die Ausübung staatlicher Gewalt bestätigt.
Die Beschwörung von Gerechtigkeit hat eine unmittelbar tröstende Wirkung auf die öffentliche Meinung. Sie deckt ein akzeptiertes Leichentuch über die Toten. Sie ist eine Grabplatte für die anonymen Massaker. Über den Massengräbern der Barbarei sollen eines Tages die Namen der Schlächter eingemeißelt werden, in Ermangelung der Namen ihrer Opfer. Die UNO-Justiz funktioniert wie ein Trauergottesdienst, in dem die Flamme der Sühne für den unbekannten Kriegsverbrecher brennt.
Wer aber kümmert sich nach Jahren noch darum, wie weit das Verfahren gediehen ist? Wer darum, daß tatsächlich bezahlt wird, damit den Toten Gerechtigkeit widerfährt, wenn es nicht einmal Geld gab, um sie zu retten? Wer kümmert sich darum, den Toten Recht zu geben, wenn allein die Lebenden wählen gehen und die Zukunft des Landes bestimmen?
In den nationalen Gesellschaften ist die Justiz nach und nach in eine rationale, objektive Form gegossen worden. Auf internationaler Ebene jedoch hat sie sich die mittelalterliche Form des „Gottesurteils“ bewahrt. Das Urteil fällt „die Geschichte“. Das Recht des Stärkeren ist immer noch das beste, denn mit ihm muß man leben.
Vorerst kollidiert die Debatte über die internationale Justiz mit einer selten in Abrede gestellten Tatsache: Frieden kommt immer gegen die Gerechtigkeit zustande. Gerechtigkeit wird von der politischen Welt jedoch unverändert als Luxus betrachtet, als Druck- oder Drohmittel, als Gegenleistung für einen aufgezwungenen Frieden oder einen nationalen Versöhnungsprozeß. Das geht so weit, daß man in den Strafgesetzbüchern unter der Rubrik „Kriegsverbrechen“ nur Amnestievorschriften findet.
Einzig die Nazi-Verbrechen sind aufgrund von Sonderbestimmungen verfolgt worden. Doch die „pädagogischen“ Prozesse gegen Nationalsozialisten waren Ausnahme, nicht Vorbild. Seit 1950 gilt in der internationalen Politik Straffreiheit als Synonym für Stabilität. Im Falle Jugoslawiens zeigt die ganze Vorgeschichte des Internationalen Strafgerichtshofs, daß dieser nicht in erster Linie zur Rechtsprechung bestimmt ist, eher wird er als friedenserhaltende Maßnahme präsentiert: Die Aussicht auf Verurteilung sollte davon abschrecken, die Kampfhandlungen fortzusetzen, und die Unterzeichnung von Friedensverträgen fördern. Doch der Sicherheitsrat ließ mehr als ein Jahr verstreichen, bevor er den Staatsanwalt ernannte, der die Ermittlungen führen sollte.
Neben diesen praktischen Problemen wird der Gerichtshof aus zwei Gründen kein wirkliches Recht sprechen können:
– weil er die Opfer, die alles verloren haben, ohne ihnen Schutz gewähren zu können, den siegreichen Kriegsverbrechern gegenüberstellt, die über alle Mittel verfügen, um Zeugen unter Druck zu setzen, Vergeltung an ihnen zu verüben und um Beweismittel vor Ort zu verfälschen oder verschwinden zu lassen;
– weil der Umfang der Aufgabe den Gerichtshof zwingen wird, Fälle auszuwählen. Nicht die Klagen der Opfer, sondern Zweckmäßigkeit wird den Gerichtshof veranlassen, Untersuchungen in den Fällen einzuleiten, in denen alle Lager betroffen sind.
Dennoch sollte nicht aus den Augen verloren werden, daß die aktuelle Debatte über die internationale Justiz ein enormer Fortschritt ist. Nachdem bisher stets versucht worden war, den Frieden ohne Rücksicht auf die Gerechtigkeit zu erhalten, ist nun die Rede davon, Recht zu sprechen, um Frieden zu schaffen. So gerät der Mythos von der Straffreiheit der Sieger ins Wanken.
Das humanitäre Völkerrecht ist kein dogmatisches Recht, sondern seit jeher Gratwanderung zwischen Gewalt und Überleben. Es bezieht daher seinem Wesen nach die politischen und militärischen Gegebenheiten mit ein. Das schwierige Verhältnis zwischen Gut und Böse wird nüchtern und realistisch erläutert. Gerechtigkeit ist in diesem Zusammenhang kein Luxus, sondern ein unentbehrliches Signal gegen den Wahnsinn. Sie ist keine billige Rache, sondern notwendige Reparatur des zerstörten sozialen und menschlichen Gefüges, eine Unterbrechung des Teufelskreises der Gewalt.
In der heutigen Debatte stehen sich jedoch zwei Auffassungen gegenüber. Die einen meinen, daß humanitäres Handeln Pflegen und Lindern von Not bedeutet, ohne sich um die Ursachen des Übels zu kümmern. Die anderen denken, daß sich humanitäre Aktionen nicht in der Hilfeleistung erschöpfen. Die ersten berufen sich bequemerweise auf die humanitäre Tradition des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Indem sie sich in intellektuelle Rechtfertigung flüchten, verwechseln sie Unparteilichkeit mit Blindheit.
Der humanitäre Grundsatz der Unparteilichkeit verlangt, den Opfern ohne Diskriminierung aufgrund ihrer politischen Gesinnung, ihrer Volkszugehörigkeit oder ihrer Religion Hilfe zu leisten. Kurz, er verpflichtet dazu, jedes Individuum zu versorgen, sobald es Opfer geworden ist, und seine Vergangenheit zu ignorieren. Zwar darf man die Augen vor der Vergangenheit eines Opfers verschließen, nicht jedoch vor dem politischen, militärischen und kommerziellen Mißbrauch der für die Opfer bestimmten Hilfe. Neutralität darf nicht so interpretiert werden, als hätten die politisch Verantwortlichen beider Lager ein Recht darauf, zu gleichen Teilen mit humanitärer Hilfe bedient zu werden.
Seit 1949 haben die Militärs gelernt, das humanitäre Völkerrecht und insbesondere die Hilfe für die Zivilbevölkerung zu mißbrauchen. Diese Perfidie muß von denen angeprangert werden, die behaupten, Zugang zu den Opfern zu haben und den Schwächsten beizustehen.
In die Genfer Konvention wurde auf Betreiben der beteiligten Staaten nicht nur der besondere Schutz der Kranken und Verletzten aufgenommen, sondern auch der Begriff der ernsten Verurteilung jedes schweren Verstoßes. Aus der Überzeugung heraus, daß Opfer nicht durch Anrufung hehrer Prinzipien geschützt werden können, sind in den vier Genfer Konventionen drei unentbehrliche Werkzeuge für eine gerechte Bestrafung enthalten:
– detailliert ist aufgeführt, was als „schwerer Verstoß gegen die Konventionen“ aufgefaßt wird;
– sie bestätigen und definieren das Prinzip, daß diejenigen, die die Verstöße begehen, und diejenigen, die den Befehl dazu geben, persönlich verantwortlich sind;
– sie verankern einen revolutionären und kühnen Sanktionsmechanismus: Jeder Vertragsstaat der Konventionen ist verpflichtet, nach den Personen zu fahnden, die beschuldigt werden, einen dieser schweren Verstöße begangen oder den Befehl dazu gegeben zu haben, und sie unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit vor seine eigenen Gerichte zu bringen. Die Konventionen sehen außerdem zwei Garantien für diese Verpflichtung zur Aburteilung vor:
– Ein Staat darf einen Kriegsverbrecher nur in ein Land ausliefern, in dem er eine mindestens gleich hohe Strafe zu gewärtigen hat. Nur in diesem Fall ist der Staat nicht verpflichtet, selbst über ihn zu Gericht zu sitzen.
– Ein Staat kann sich niemals dadurch aus seiner Verantwortung für die Verurteilung von Kriegsverbrechern stehlen, daß er ein Amnestiegesetz erläßt oder völkerrechtliche Abkommen (zum Beispiel Friedensverträge) unterzeichnet, die Straffreiheit für die von den Konfliktparteien auf beiden Seiten begangenen Verbrechen vorsehen.
Die von den Staaten bei der Ausarbeitung der Konventionen an den Tag gelegte Kühnheit ist in der Praxis leider ohne Folgen geblieben. An Konflikten hat es seit 1949 sicher nicht gefehlt. Daß die Begriffe „Recht“ und „humanitäre Gerechtigkeit“ international wieder eine Rolle spielen, bedeutet nicht das Ende der Kriegsverbrechen. Es leistet jedoch einen bescheidenen, aber vielleicht konkreten Beitrag dazu, daß das Dogma von der Straffreiheit der Kriegsverbrecher erschüttert wird. Françoise Bouchet-Saulnier
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