Grimonprez Filmessay "Double Take": Abkürzungen durch die Geschichte
Der Doppelgänger und der Kalte Krieg: "Double Take" von Johan Grimonprez im Forum Expanded ist ein wild wucherndes Essay über Fernsehklischees und Schizophrenie.
In alten Science-Fiction-Geschichten heißt es, dass, wenn man seinem anderen Ich begegnet, es töten muss, bevor es einen selbst tötet. Was also hätte geschehen können, wenn Alfred Hitchcock zu Lebzeiten seinem Lookalike Ron Burrage zufällig über den Weg gelaufen wäre? Burrage arbeitete in den 60er-Jahren im Londoner Nobelhotel Claridge, in dem Hitchcock bei Dreharbeiten manchmal abstieg. Getroffen haben sie sich glücklicherweise nie - es hätte womöglich blutig geendet. 1999 aber wurde Burrage zu den Filmfestspielen nach Locarno eingeladen, um an der Seite von Tippi Hedren die Wiederaufführung von "Die Vögel" zu präsentieren. Der Doppelgänger hatte sein Original in einem gelungenen PR-Coup schließlich doch noch ersetzt.
Johan Grimonprez Essayfilm "Double Take" ist voll von solchen Doppelungen und Doppelbildern. Sie dienen ihm als Ausgangspunkt für einen Streifzug durch die Geschichte des Fernsehens. Das Fernsehen, nicht das Kino, war für den belgischen Videokünstler die formative Erfahrung seiner Kindheit. Dass er mit "Double Take", einer Collage, die den Strom der Fernsehbilder nach sehr distinktiven Themen ("Klischees", wie der Filmemacher sagt) sondiert, jetzt zurück auf die Kinoleinwand drängt, ist noch eine dieser Dubletten, denen der Film in wild wuchernden Assoziationsketten nachgeht. Sie stellt auch die definitive Pointe dar.
In den frühen Sechzigern, als Burrage und Hitchcock sich hätten begegnen können, erlebte das Fernsehen gerade seinen Durchbruch als gesellschaftlicher Einrichtungsgegenstand; die Filmindustrie sah sich in ihren Grundfesten erschüttert. (Ein Bedrohungspotenzial, das auch in einer anderen Sektion der diesjährigen Berlinale, der 70-mm-Retrospektive mitklingt). Etwa zur selben Zeit unternahm Hitchcock einen Ausflug ins Fernsehen: Die Krimireihe "Alfred Hitchcock Presents" katapultierte ihn, den Cameo-Mann, endgültig zur Popikone. Seine Silhouette war so bekannt wie die von Mickey Mouse. Mit Hitchcock als Prisma und Leitmotiv nimmt Grimonprez Mediengeschichte sukzessiv voyeuristische und paranoide Züge an.
Nixons und Chruschtschows "Küchen-Debatte", Kuba-Krise, Kaffee-Werbung, Baby Boomer: Die Trennung zwischen dem Privaten und dem Politischen ist in "Double Take" haarscharf. Hitchcocks Wechsel des Mediums fällt in die Zeit der Dichotomien ("Ost/West"); die gesellschaftlichen Befindlichkeiten liegen blank. Als Kennedy und Chruschtschow die Kuba-Krise mit einem Kompromiss beilegen, werden sie von ihren Seiten als Verräter beschimpft. Wurde Hitchcock aber nicht auch zu so etwas wie einem Verräter, als er vom großen Kino zum bequemen Fernsehen überlief?
"Double Take" ist wie Grimonprez Filmessay "dial H-I-S-T-O-R-Y" von 1997 eine funky Reflexion über die Zusammenhänge von Terrorismus und Tourismus, eine Katastrophenerzählung. Grimonprez bedient sich erneut der unerschöpflichen Bildarchive, um in der überlieferten Historie parallelen Verläufen nachzuspüren. Wie verhält sich etwa der mysteriöse Vogelschwarm, der 1948 über New York vom Himmel fiel, zu den Vögeln in Hitchcocks Film? Wie das Flugzeug, das etwa zur selben Zeit ins Empire State Building flog, zu 9/11 ( und damit auch zu "dial H-I-S-T-O-R-Y", der eine ganze Galerie von Flugzeugcrashs bereitstellt)? Grimonprez findet immer wieder überraschende Abkürzungen durch die Geschichte, die von der Schizophrenie der Dopplung strukturiert ist.
Hitchcock selbst war ein Meister der Täuschung; in den berühmten Einführungen von "Alfred Hitchcock Presents" spaltet sich sein Selbst immer wieder von der Medienfigur ab. Der Auteur wird so auch zum Symptom seiner Zeit. Grimonperz aber arbeitet weniger polarisierend denn entropisch. Er häuft die einfachen Gegensätze zu Vielheiten an.
"Double Take". Regie: Johan Grimonprez. Mit Ron Burrage, Mark Perry. Niederlande 2009, 80 Min.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!