Griechen wollen Hungerrezepte: „Krümel kann man sammeln“
Das Kochbuch „Hungerrezepte“ ist in Griechenland zum Besteseller geworden. Die Autorin, Historikern Eleni Nikolaidaou, erklärt, warum.
taz: Frau Nikolaidou, Sie sind Historikerin. Wie sind Sie denn darauf gekommen, ein Kochbuch zu schreiben?
Eleni Nikolaidou: Eigentlich ist es kein Kochbuch, sondern ein historisches Buch und das Ergebnis von zwei Jahren Recherche. Ursprünglich wollte ich herausfinden, wie das Leben in Athen war, als die Nazis die Stadt besetzt hielten. Ich habe etwa 6.000 Zeitungsartikel aus den Jahren 1940 bis 1944 gelesen. Damals hatten die Nazis Griechenland besetzt. Also wurden Ratschläge für die Leser veröffentlicht, die ihnen helfen sollten, über die Runden zu kommen.
Ist die Situation heute so drastisch wie damals?
Während der Nazizeit hatten wir auch viele Obdachlose, Suppenküchen oder Schüler, die vor Hunger ohnmächtig wurden. Heute müssen viele Menschen wieder im Müll nach Essen suchen. Es gibt auch wieder viel Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne und hohe Preise. Damals war es eine militärische Besetzung, heute ist es eine wirtschaftliche.
Welche Ratschläge haben Sie in Ihrem Buch gesammelt?
Man sollte das Essen so lange wie möglich kauen. Krümel sollte man auch nicht wegwerfen, sondern in einem Glas sammeln. Eine Aubergine kann man durch den Fleischwolf drehen und anstelle von Hackfleisch verwenden. In einem Rezept steht auch, wie man aus Resten, die gerade mal für eine Person reichen, eine Suppe für eine fünfköpfige Familie machen kann.
Welche Entwicklungen sehen Sie in Griechenland, wie ändern die Menschen ihre Gewohnheiten?
Immer mehr Griechen müssen ums Überleben kämpfen. Über eine Million Menschen sind arbeitslos und die Zahl steigt täglich. Es ist definitiv so, dass die Griechen ihre Gewohnheiten geändert haben, auch wenn es ums Essen geht. Die Straßenmärkte sind jetzt immer am Ende des Tages überfüllt, die Menschen versuchen verbilligte Produkte zu ergattern. Die Ansprüche sind durch das fehlende Geld gesunken. Viele suchen auch im Müll der Märkte nach verdorbenem Obst und Gemüse. Viele Schüler kaufen sich in der Schule kein Mitagessen mehr, weil oft beide Eltern ohne Arbeit sind. Inzwischen gibt es für die armen Kinder das Essen in den Schulen gratis.
Für den Großteil der Griechen ist es wahrscheinlich heute nicht leicht 12,90€ für ein historisches Kochbuch zu bezahlen. Auch Ihr Verleger war überrascht über den Erfolg des Buches. Wieso kaufen so viele Menschen dieses Buch?
Die Menschen in Griechenland haben ihre Ausgaben minimiert. Bücher sind eigentlich unter den ersten Dingen, an denen gespart wird. Aber es ist einfach wichtiger seine Kinder satt zu kriegen. Unsere wirtschaftliche Situation ist traurig und „Starvation Recipes“ ist genau deswegen ein Erfolg. Ich hätte nie damit gerechnet, dass so viele Menschen jeder Altersstufe mein Buch kaufen würden. Was sie alle gemeinsam haben ist, dass sie lernen wollen, wie man mit wenig auskommen kann.
Was denken Sie persönlich über Deutschland und seine Rolle, wenn es um die Krise geht?
Ich denke, man muss Regierungen von Völkern unterscheiden, egal ob es um Deutschland oder Griechenland geht. Alle haben uns wegen der Krise im Blick und viele Länder befürchten das nächste Opfer der Wirtschaftskrise zu werden. Deswegen setzen uns die deutsche Regierung und die deutschen Banken sehr stark unter Druck.
Die griechischen Politiker die uns regiert haben und immer noch regieren, sind zu einem großen Teil Schuld an unserer Situation. Sie haben uns schlecht informiert und angelogen. Dann haben sie uns auch noch als faule, betrügerische Gauner hingestellt. Ich glaube, dass gerade die junge Generation zeigen wird, dass das nicht so ist. Wir haben eine lange und wertvolle Geschichte, die Jugend wird sie weiterführen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen