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Archiv-Artikel

Grellbuntes Leben

Stetes Flirren zwischen authentischer Vergangenheit und Imagination: Cathy Days fesselndes Zirkusbuch „Winterquartier“

von SEBASTIAN DOMSCH

Der Zirkus ist für die Literatur natürlich immer ein gefundenes Fressen, allerdings eines von so üppiger Art, dass stets die Gefahr der Übersättigung droht. Angesichts todesmutiger Akrobaten, verliebter Elefanten und depressiver Clowns wird der Autor leicht zum Marktschreier in eigener Sache. Fast zu prall und bunt sind all die möglichen Geschichten, die sich hinter den Artisten, den Dompteuren und Direktoren erahnen lassen, unerschöpflich die Reisen in alle Gegenden des Landes, und dann sind da ja noch die Tiere. Eine Prise Zirkus peppt die langweiligste Erzählung auf, als zentrales Motiv aber wird er schnell zum schrillen Overkill.

Der geniale Schachzug von Cathy Days Zirkuscollage „Winterquartier“ ist daher ihre Wahl des Winterquartiers als Leitmotiv und verbindendes Element. Selbst die abenteuerlichsten Geschichten erhalten dadurch ihre Bodenhaftung in der banalen Alltagswelt einer amerikanischen Kleinstadt, und die Atmosphären von Fernweh und Provinzialität unterstützen und verstärken sich gegenseitig, wenn sie im fiktiven Städtchen Lima, Indiana jahrzehntelang unmittelbar aufeinander prallen.

Zur Zirkusstadt wird Lima, als der dort ansässige Unternehmer Wallace Porter einen bankrotten Zirkus erwirbt, eine zu späte Wiedergutmachung für das aufregende Leben, das er seiner verstorbenen Frau nicht bieten konnte. Von nun an sind jedes Jahr für ein paar Monate Zirkusleute in der Stadt, exotische Figuren wie die Akrobatin Jenny Dixianna, die sich dort von ihrem „Todeskreisel“ erholt, der ihr Handgelenk jede Saison in eine nie verheilende blutige Wunde verwandelt, und andere, die ganz normal sind und den Besuchern eine Pseudoexotik vorgaukeln. So wie „Der Gulah-Junge aus dem Urwald“, der sich als Nachfahre ehemaliger Sklaven nur darüber wundern kann, dass man ihn im Zirkus dafür bezahlt, Weißen Angst einzujagen. Manche bleiben auch für immer in der Stadt, so wie Ollie der Clown, der die Wäscherei „Clown Alley Cleaners“ eröffnet und eine Menge Erinnerungen bei sich bewahrt.

All dies wird nicht als durchgängige Geschichte erzählt, denn Days Buch ist viel weniger ein Roman als selbst eine scheinbar wild zusammengewürfelte Zirkusveranstaltung, ein mal grellbunter, mal gedämpft gehaltener Flickenteppich aus einfühlsam geschriebenen Geschichten, skurrilen Anekdoten und melancholischen Erinnerungen an Lebenswege und Verluste, lose geknüpft, aber stets mit Verbindungslinien untereinander. Manche Ereignisse tauchen immer wieder auf und bilden dadurch Knotenpunkte, wie etwa die Geschichte des Elefanten Caesar, der scheinbar ohne Grund seinen Wärter angegriffen und im Fluss ertränkt hat.

Day hat ihr fesselndes Buch äußerst clever strukturiert, wie man es von einer Dozentin für Creative Writing wohl erwarten darf, ohne dass man jedoch hinter jedem Satz den Lehrsatz gleich mithören würde. Die nichtchronologisch angeordneten Geschichten lassen sich grob in zwei Bereiche einteilen: die aktive Zeit des Great Porter Circus, der zwischen 1884 und 1939 in Lima überwinterte, und die von Erinnerungen und Nostalgie geprägte Zeit danach, bis hin zur Gegenwart.

Das Verbindungsgelenk zwischen den beiden Bereichen ist die apokalyptische Geschichte vom großen und für den Zirkus verheerenden Hochwasser, die symbolisch für den Verlust der Unschuld des kindlichen Staunens gelesen werden kann. Als der Fluss, an dessen Ufern der Zirkus campiert, über die Ufer tritt, treiben wie in einer negativen Arche alle Tiere dieser Welt tot auf den Wassern dahin, und mit ihnen die große Zeit des Zirkus. Die Anekdote des mörderischen Elefanten Caesar dagegen fungiert als Symbol für die Unzuverlässigkeit nostalgiegeschwängerter Erinnerungen. Der Leser erfährt im Laufe des Buches einfach zu viele Versionen über den tödlichen Angriff und die anschließende Jagd auf den Elefanten, um mit Gewissheit sagen zu können, was damals tatsächlich geschah. Selbst der Elefantenschädel im Heimatmuseum erweist sich am Ende als der falsche. Doch wer auf Eindeutigkeit dringt, der hat ohnehin nicht verstanden, worum es beim Zirkus geht. Oder bei der Literatur.

Wohl um dem deutschen Leser nicht zu viel Mehrschichtigkeit zuzumuten, hat der Dumont Verlag die Konstruktion des Buchs durch seine Präsentation stark geglättet. Nicht nur hat er ihn der Einfachheit halber Roman genannt, sondern auch die historischen Fotos weggelassen, die Day allen Kapiteln vorangestellt hatte. Damit wird das Flirren zwischen authentischer Vergangenheit und imaginativer Ausgestaltung weitgehend ausgeblendet. Das ist schade, denn Cathy Day, die in Peru, Indiana aufgewachsen ist, wo seinerzeit der Hagenbeck-Wallace-Zirkus überwinterte, und deren Großonkel von einem Elefanten getötet wurde, kokettiert nicht einfach nur mit dem Authentizitätsanspruch, sondern macht seine Fragwürdigkeit gleich mit zum Thema.

Letztendlich ist der Zirkus nicht greifbar, ist nur ein Gefühl, weiterziehen zu müssen, die Sorge, dass das Abenteuer an einem anderen Ort stattfindet. Die Zeiten, in denen der Zirkus in die Stadt kam, mögen vorbei sein, doch dieses Gefühl ist geblieben, und Day beschreibt sich und die meisten Menschen, die sie kennt, als moderne Zirkusleute. Denn diejenigen, die bleiben, sind die Stadtmenschen, und diejenigen, die fortgehen, sind Zirkusmenschen. Auch wenn sie keine Seiltänzer sind und keine Schwerter schlucken: „Wir sind Zigeuner, die überallhin gehen, wo es Arbeit für uns gibt.“ Das ist die abschließende Pointe dieses klugen, so humorvollen wie traurigen und lesenswerten Buches.

Cathy Day: „Winterquartier“. Aus dem Amerikanischen von Dirk von Gunsteren. Dumont Verlag, Köln 2006, 320 Seiten, 21,90 Euro