: Gorbi löst Glotze-Staatsmonopol auf
■ Künftig können Rundfunk- und Fernsehstationen auf eigene Rechnung betrieben werden / Krisenmanagement gegen „wilde“ Übernahmen / Staatskontrolleure künftig arbeitslos?
Moskau (taz) - In einem nach der Hauptnachrichtensendung des Fernsehens verlesenen Dekret hat Präsident Gorbatschow am Montag verfügt, das Staatsmonopol über Radio und Fernsehen in der Sowjetunion aufzuheben. Künftig sollen lokale und regionale Sowjets, Parteien und gesellschaftliche Organisationen das Recht haben, selbstfinanzierte Radio- und Rundfunkstationen zu unterhalten.
„Die Demokratisierung der Gesellschaft“, sagte Gorbatschow zur Begründung, „die wachsende Rolle der souveränen Unionsrepubliken und ihrer Sowjets, schließlich der sich entwickelnde politische Pluralismus verlangen grundlegende Änderungen im Charakter des Fernsehens und des Radios.“ Gorbatschow kündigte ferner die Reorganisation des Medien -Staatskomitees an, das in mehrere Produktionsgruppen aufgeteilt werden soll, die miteinander im Wettbewerb stehen. Die Aufsicht über den gesamten Medienbereich soll freilich weiterhin bei der sowjetischen Regierung liegen. In dem Dekret wird ausdrücklich festgelegt, daß alle Maßnahmen ungültig sind, die ohne Absprache mit der Zentralregierung die Eigentumsverhältnisse an den Medien verändern wollen. Diese Bestimmung zielt auf die Okkupation des Leningrader Senders durch die mehrheitlich demokratisch orientierte Stadtverwaltung und die Übernahme der litauischen Glotze durch die Unabhängigkeitsbewegung. Die im Dekret geforderte Selbstfinanzierung könnte in der Praxis entweder bedeuten, daß den Staatssendern Sendezeit abgekauft wird, oder daß mit geleasten staatlichen Ausrüstungen selbständig produziert wird. Auch könnte es in Zukunft möglich sein, daß unabhängige Firmen westliches Gerät und Know-how gegen die Zusicherung von Werbesendezeiten importieren.
Novosti, der Komsomol und der Avantgardeverband der sowjetischen Filmemacher haben bereits ein erstes Joint -venture, das „Nika TV“, abgeschlossen, aus dem ein unabhängiger Fernsehsender hervorgehen soll.
Gorbatschows Dekret versucht einerseits, die „wilde“ Übernahme von Fernsehstationen zu unterbinden, andererseits will es mit den Zensurpraktiken der Parteigewaltigen in den Staatskomitees der Union wie der Einzelrepubliken brechen. Im Gegensatz zu den schon weitgehend liberalisierten Printmedien gibt die sowjetische Glotze bisher nur den - oft noch konservativ zurechtgebogenen - Regierungsstandpunkt wieder. Kritische Magazinsendungen wie die Leningrader „200 Sekunden“ werden nicht unionsweit ausgestrahlt. Wer bisher als gesellschaftliche Organisation Recht auf Fernsehberücksichtigung hatte, unterlag der Definitionsmacht der Apparatschiks.
Kürzlich spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen den Kontrolleuren und ihren Kritikern zu, als eine Interview -Sendung mit Boris Jelzin kurzfristig abgesetzt worden war, angeblich, weil der Sendeabend bereits politisch überfrachtet gewesen sei. Jelzin hatte daraufhin angekündigt, daß die russische Föderation ein eigenes Rundfunk- und Fernsehsystem aufbauen werde.
CS
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