Goethes Faust II: Zwischen Aldi und Dallas Bistro

Ein ganzer Stadtteil spielt Theater. In Bremen-Tenever, das als sozialer Brennpunkt gilt, führen Einwohner mit Prominenten den Goethe-Klassiker als Sprechoper auf.

Da kann sich ein Stadtteil noch so anstrengen, ein derartiges Open-Air-Spektakel ist nur in einem Viertel mit besonderem Entwicklungsbedarf möglich - wie eben Tenever. Bild: Jörg Sarbach

Autos: Stop! Alltag: Halt. Die Otto-Brenner-Allee, Hauptverkehrsader in Bremen-Tenever, ist gesperrt, Rockkonzert-würdige Bühnentechnik wird aufgefahren, Bierstände und Bockwurstaufwärmmaschinen werden aufgebaut, weil ein weltweit renommierter Klangkörper, die Deutsche Kammerphilharmonie, konzertiert. Der auch sehr bekannte Mime Dominique Horwitz singt, rappt, rezitiert dazu - zerrissen zwischen Liebe, Macht und Geist - den Faust, der gleichzeitig auch von Pina-Bausch-Tänzer Jean Laurent Sasportes in Bewegung versetzt wird - wie ein Narr eigener Hybris.

Er dreht sich, völlig ungerührt in seinem Größenwahn, um sich selbst, unendlich endlich ins "Ewig-Leere" (Goethe). So hat der eitle Zausel keine Chance, Helena zu erobern, die in der Gestalt der italienischen Jazzsängerin Etta Scollo volltönend über die Bühne schönwandelt. 270 Schüler aller Größen, Hautfarben und Modestile sprechen chorisch, bewegen sich choreografiert, 160 weitere haben Bühnenbild, Kostüme, Maske, Internetauftritt und Videozuspielungen gestaltet, ungezählte Teneveraner nähten, organisierten, berieten. Und das alles für Goethes zitatenselige Bildungsreise durch die Hoffnungen, Ideen und Ängste der Menschheit.

Da kann sich ein kleinbürgerlicher Stadtteil, abseits aller Schlagzeilen und EU-Fördermittel, noch so anstrengen, ein derartiges Open-Air-Spektakel ist nur in Oberammergau oder in einem Viertel mit besonderem Entwicklungsbedarf möglich - wie eben Tenever, eine trutzige Hochhaussiedlung an Bremens Ost-Grenze zu Niedersachsen.

Laut Statistik leben dort etwa 6.000 Menschen aus 88 Ländern, davon etwa zwei Drittel mit Migrationshintergrund. Mehr muss man nicht wissen, um das Stichwort "sozialer Brennpunkt" zu verstehen. Dessen Feuer soll übersetzt werden in faustische Hirn- und Herzgewitter, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Himmel und Hölle, Mythos und Geschichte, Technik, Politik und Krieg umschließen. Ein ganzer Stadtteil spielt "Faust II". "Das ist kein Projekt, das ist ein Prozess", sagt Kammerphilharmonie-Geschäftsführer Albert Schmitt. Seit etwa zwei Jahren probt und engagiert sich sein Orchester an der Gesamtschule des Problemviertels, testet Kultur als Entwicklungsmotor zur Verbesserung der Lebensbedingungen und Förderung von Integration.

Warum sollten die Schüler nicht erst mal mit der üblichen Pubertätsdramatik ("Frühlings Erwachen") oder wenigstens mit Jugendlichen der Weltliteratur wie Hamlet oder Peer Gynt konfrontiert werden? Initiator Karsten Gundermann betonte im taz-Interview: Nach "Faust II" würden die Schüler "bis zum Lebensende wissen, wer Goethe war, worum es in Faust geht, und sie haben die wichtigsten Zitate drauf". Also wurde das ganz große Ding angegangen. Possen- und Mysterienspiel, Volkstheater, bürgerliches Trauerspiel, Komödie, philosophisch-theologischer Diskurs, Wortoper, Budenzauber - Opus summum des klassischen Sprechtheaters. So anmaßend allumfassend, ein eigentlich uninszenierbarer Versbruch, für "immer inkommensurabel", wie selbst Goethe meinte. Aber auch Projektionsfläche für alles Wesentliche, darin völlig zeitlos und aufladbar durch ewige wie ephemere Themen.

Goethes anmutige Gegend findet man in Tenever zwischen Aldi und "Dallas Bistro", vor einer Skyline inzwischen aufgehübschter Hochhäuser, darüber Flugzeuge im Landeanflug. Gespielt wird auf fünf Ebenen, von der Straße bis hinauf in die 2. Etage der Gebäude. Die Handlung ist rüde zusammengestrichen worden, sogar Mephisto ging verloren, während sich die Textknochen und -knorpel in mal wenig, mal überreichlich modernisierter Form präsentierten: So verröchelt Faust mit der Stummelsprache der Internet-Chats auf den Lippen. Der Chorus myticus heißt Chor der Massenmedien, Mater gloriosa und alle christlichen Anspielungen wurden, so gut es ging, getilgt, um den Abend "vielen Kulturkreisen zugänglich zu machen", wie Regisseurin Julia Haebler im Programmheft schreibt.

Viel wichtiger bei solch einem Theater-Event aber: Es ist immer und überall viel los. Am Kaiserhof gehts daher mit Mitteln des Maskenspiels lustig zu wie im Bundestag, eine mit Luftballons designte Panzerattrappe dient zur Satire auf Kriegsspielerei, geschossen wird mit Wasserbomben, auch die Bundeswehr fährt noch mit Waffenkisten vor. Und die Regisseurin hat weitere hübsche Inszenierungsideen: Anstatt Papiergeld zu erfinden, zieht Faust Toilettenpapier aus einem Mülleimer, umgarnt damit das Volk, die Jugendlichen und stopft Widerspruchsgeistern das Maul. Karsten Gundermann umtost das gesamte Geschehen mit einer metallisch harten Collage elektronischer Klänge, lässt es ordentlich wummern, zischen, raunen, zitiert Pop, Klassik, Computerspielmusik, Techno, HipHop, während die Kammerphilharmoniker einige warme Streicherphrasen applizieren. Sehr kurzweilig, weil abwechslungsreich.

Der letzte Satz der Faust-Tragödie, "Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan", ist Widerspruch zum faustisch-männlichen Drang nach Erkenntnis, Macht und Umsturz: das Prinzip allumfassender Liebe. So sitzt nach drei Aufführungsstunden ein jugendliches Darsteller-Paar auf der Bühne, er holt ihr ein alkoholfreies Getränk aus dem anliegenden Kiosk, beide wandern fasziniert von dem Theaterspektakel, von Faust Himmelfahrt (und ihrer erwachenden Liebe?) - zurück in den Alltag des Stadtteils. Während auf der Apotheke ein überlebensgroßes Goethebildnis mit einer "Prima gemacht"-Geste winkt. Die Begeisterung bei den Hundertschaften des Publikums war ebenfalls groß,auch wenn es Aufführung und Textfassung schwer machten, der Handlung zu folgen, Anspielungen, Themen, Zusammenhänge, Motivation der Figuren zu verstehen. "Ein schweres Stück, so verwirrend", stöhnten Premierengäste zur Pause. Aber ja schon Goethe notierte: "Des Menschen Leben ist ein ähnliches Gedicht, es hat wohl einen Anfang, hat ein Ende, allein ein Ganzes ist es nicht." Kein Projekt also, sondern ein Prozess. Nicht künstlerischer Genuss für Außenstehende, sondern Impuls für Begegnungen - und die Möglichkeit, mal nicht problematischer, sondern vorbildlicher Stadtteil zu sein. Positive Identität entwickeln. "Sonst geht es hier oft aggressiver zu, wenn viele Jugendliche zusammenkommen", hieß es erfreut.

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