: Glockenläuten mit Constanze
„Pseudologia Phantastica“, letzter Teil ■ Von Gabriele Goettle
Kurz vor Ostern rief eine Frau an, nannte ihren unglaublichen Namen – den ich leider hier nicht wiedergeben kann – und erklärte, auch sie habe Anrufe bekommen vom „Telefonkind“. Jetzt, wo sie um den Hintergrund wisse, sei sie zwar erleichtert darüber, daß niemand zu Schaden gekommen sei, finde aber dennoch die Erinnerung an das alles beklemmend. Wir verabredeten ein Treffen nach den Feiertagen.
Ebenso wie Hanne und Bodo aus der vorhergehenden Geschichte wohnt auch Ursula S.-E. in Charlottenburg, mit dem Unterschied allerdings, daß in diesem Teil des Bezirkes die Mietshäuser schlicht, die Wohnungen klein, die Straßen schmaler sind. Im Treppenhaus hängt ein altes Schild mit der Aufschrift „Frisch geölt“, das hölzerne Treppengeländer beginnt mit einem wild verzierten Drachenkopf, von den Wänden blättert der Anstrich. Im Hinterhof, wohl in einer ehemaligen Werkstatt, scheint jemand Bildhauerei zu betreiben, auf dem bemoosten Kopfsteinpflaster stehen einige Skulpturen. Im dritten Stock empfängt mich Frau S.-E. sehr freundlich, stellt mir ihre 14jährige Tochter Else und den 12jährigen Sohn Tilman vor und bittet mich dann in die Küche. Der Anblick ist vertraut, selbstgebastelte Regale voller Gewürze, Teebüchsen und anderem Kleinkram, aufgehängte Becher, Marmeladengläser. In der Ecke steht ein funktionstüchtiger, weißgekachelter Küchenherd. Der Raum ist schlauchförmig, quer vor dem Fenster steht der Tisch, an dem wir alle Platz nehmen. Tee wird verteilt und Hefezopf, die Kinder strahlen eine altmodische Ruhe und Friedlichkeit aus, selbst die Osterdekoration auf dem Tisch wirkt wie aus einer anderen Zeit übriggeblieben. Ursula S.-E., 1945 geboren, ist Bewegungs- und Atempädagogin. Sie hat bei der (damals schon weit über 70 gewesenen) Frieda Goralewski gelernt.
S.-E.: Also, ich habe hier mein Notizbuch, 15. April 1990, wir waren im Schloßpark, zum Osterhase suchen. Ich hab auf der Insel Eier versteckt, und da erwischten sie mich [lacht], die Kinder. Später haben sie dann gesagt, so, jetzt wissen wir's, wir haben alles gesehen. Die Kinder waren damals, na, acht und zehn. Am nächsten Tag mußten wir unsere Sachen packen, wollten wegfahren, und dann, um 17 Uhr, 16. April 90, am Ostermontag, ruft ein Kind an und möchte seine Mutter sprechen. Sag ich, ja, hier isse nicht! Schluß, gleich hat sie aufgelegt. Nach 'ner Weile klingelt's wieder. Auweia, sagt sie, als sie mich hört. Das klingt mir heute noch in den Ohren, das war ganz hell und unsicher. Ich sagte, na, du hast ja schon wieder – aber nein, sie hatte sich nicht verwählt, sie hatte meine Telefonnummer. Sie sagte, die Mutter ist weggegangen, die ist Ärztin und macht Notdienst.
Else: Und ich hab sogar vorher noch einen Notarztwagen gesehen hier in unserer Straße, das war das Komische.
S.-E.: Sie sucht also die Mutter. Zwei Brüder hatte sie auch noch, und sie sagte ihren Namen, Constanze. Fünf Jahre alt sei sie, und ... sie hat ein bißchen gezögert, die Mutter sitzt im Rollstuhl. Aber wie geht das, Notdienst im Rollstuhl, wie geht denn das? Ja, da sind solche Einrichtungen, bei den älteren Menschen, zu denen sie fährt, extra für Rollstühle. Ich weiß nicht, ob's das wirklich gibt. Jedenfalls, wir haben ein bißchen länger geredet, ich erzählte, daß ich auch Kinder habe, sagte, wie ihr heißt, wie alt, und sie sagte, sie käme auch bald in die Schule. Ich erzählte von eurer Schule, von der Waldorf-Schule in Reinickendorf – und sie sagte freudig, da kommt sie auch hin, ist schon angemeldet in der Waldorf- Schule. Und in dem Moment macht's bei uns dann so! Ich hab nicht weiter gefragt, man will ja ein fremdes Kind nicht aushorchen. Das darf man auch nicht. Aber sie hat von sich aus alles erzählt, vor allen Dingen, daß die Mutter es nicht gerne hat, wenn sie vom Rollstuhl erzählt, weil ... sie hat es dann gesagt: „Papa und Simon sind nämlich gestorben, im November.“ Das wußte sie noch ganz genau, es war am Tag vor der Maueröffnung gewesen, und am nächsten Tag hätten sie dann ferngesehen, obwohl man das ja nicht macht, wenn man so traurig ist. Der Vater hatte einen Autounfall, der Simon war erst drei Jahre alt, die Mutter und die restlichen drei Kinder waren nicht drin ...
Else: Doch – die Mutter war drin im Auto, deswegen hat sie ja im Rollstuhl gesessen, nachher!
S.-E.: Richtig! Wir haben dann mit dem Telefonieren bald aufgehört, und zwei Stunden später rief die Mutter an, sagt, sie ist gerade erst nach Hause gekommen und hat von dem Fehler erfahren, bedankt sich, sie war in Ordnung, so lieb, dezent, freundlich, vornehm, schön. Ich erzählte dann, daß wir wegfahren wollten, das wollte sie auch, so für eine Woche. Jedenfalls, wir fuhren dann weg damals, nach Pisselberg, und da hat der Tilman sich das Bein gebrochen. Ach, das war 'ne größere Geschichte, wir fuhren früher zurück. Ich hab ja damals im Hort mitgearbeitet, war aber dann wegen Tilman zu Hause und deshalb auch telefonisch erreichbar. Da meldete sich zu meiner Überraschung die Constanze zurück, ich hatte nicht damit gerechnet. Auch die Mutter meldete sich, und wir haben überlegt, daß wir uns mal treffen. Hier geht's ja nicht bei uns. Ich dachte, am besten beim „Chocker“, so nennen wir's unter uns, das Café am Lietzensee, wegen dem Hund, der heißt so, Chocker.
Else: Der ist gestorben.
S.-E.: Ja? Ich hab ihn letztes Jahr noch gesehen. Dort ist es schön, man guckt auf den Funkturm. Ein altes Café am Wasser, der Boden ist noch ganz erdig, früher konnte man einen Kahn mieten ...
Tilman: Das ist fast wie eine Bude.
S.-E.: Ein einfaches Häuschen, mit einfachen Tischen, gegenüber vom Amtsgericht. Wenn das Wetter heute schön wäre, hätten wir alle dahin gehen können. Gut, da wollten wir uns treffen mit der Frau Mandelbaum, aber dann rief sie an, es findet kein Treffen statt. Der Termin sei für sie selbst auch ganz überraschend gekommen, sie müßte nochmal nach Köln zur Operation fahren, wegen dem Bein, irgendwie wollte man versuchen, Nerven wieder anzuschließen oder ähnliches. Das habe ich dann dem Diethardt erzählt, meinem Mann. Wir fanden das traurig, so ein kleines Kind, das Vater und Bruder verloren hat, und die Mutter gelähmt ... Er hat ja auch mit Constanze telefoniert, an sich isser ja eher schwer zu erreichen abends, aber er war zufällig mal drangegangen. Sie haben sich ganz gut verstanden, ein bißchen unterhalten, Constanze war interessiert. Aber er wollte es nicht, im Grunde. Das war ihm viel zu kompliziert, er verhält sich so in allen Bereichen, wenn ihm was zu dicke kommt, dann geht er nach innen, verschließt sich. Sich austauschen und sprechen, nach vorn und rückwärts, das macht er auf keiner Ebene, da fehlt's eben, leider ... Am nächsten Tag also sollte ein Krankentransport kommen und Mutter und Tochter abholen. Constanze rief am Vormittag an: „Wir sind immer noch da, er sollte um sechs Uhr morgens kommen!“ Hier in meinem Büchlein steht: „Erst um dreizehn Uhr. Constanze mehrmals gesprochen.“ Abends um neun waren sie dann endlich in Köln angekommen. Am nächsten oder übernächsten Tag fand dann die Operation statt. Constanze hatte große Angst. Danach ist sie gleich ans Bett der Mutter und hat das Bein angefaßt, „aber die Mama hat nichts gespürt“. Also war die Empfindung nicht zurückgekehrt, die Operation mißglückt. Constanze ist ganz geknickt, sagt, also, sie muß doch im Rollstuhl bleiben. Dann will die Mutter mit mir sprechen, übernimmt den Hörer. Ja, sagt sie, leider, die Operation ist nicht gelungen, alles sei nun sehr schwierig, Constanze pullert ins Bett, und die Oma macht darüber ein großes Theater, dabei müsse man doch nachsichtig sein, nach allem, was geschehen ist. Also, ich hatte den Eindruck, daß die Großmutter von Constanze ein bißchen schwierig ist. Sie saß in Köln, und es kam bei uns immer irgendwie so an, da ist viel Geld im Hintergrund, wir haben uns oft gefragt, wieviel das Kind allein vertelefoniert. Aber man hat sie offenbar nicht gehindert. Ja, und die Mutter selbst hatte mir noch erzählt, daß Constanze ganz große Angst hätte, nun auch noch ihre Mutter zu verlieren. Sie habe zwar Schmerzen in der Brust, aber so leicht stirbt man nicht, sagte sie. Constanze hat mir später berichtet, daß die Mama Fieber hat. So, dann sind wir hier, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – am 27. April, da kommt ein Anruf von Constanze, sie sagt, es ist was Schreckliches passiert, stockt, die Elke ist da, die soll's dir sagen! Und Elke teilte mir dann mit: „Die Mutter von Constanze ist in der Nacht verstorben, an Embolie.“ Da patschte es uns natürlich alle ganz schön hin.
Else: War Elke nicht die Tante?
S.-E.: Die Schwester von der Mutter ist die Tante, ja, na und später am Tag rief die Constanze nochmal an, sagt, sie hat gepullert und gebrochen den ganzen Tag. Und ich bin fast am Weinen, da sagt sie zu mir, ich soll nicht weinen, was ich sofort kapiert hab, ist ja klar, das kann ich auch nachher machen. Wir waren hier alle auch ganz fertig. Dann, am Sonntag, Anruf von Constanze. Also immer abends um sechs, wenn die Glocken läuten, haben wir aneinander gedacht, das war so ausgemacht. Ich hab gesagt, guck mal, beim Glockenläuten sitzen wir hier in der Küche um den Tisch herum zum Essen und sind immer gedanklich auch bei dir. Sie rief also an, und es war schrecklich, das ganze Plappern war weg, sie holte Luft, konnte kaum sprechen, im Hintergrund hörte ich bei ihr die Vögel zwitschern. Sie erzählte, daß ein Bruder plötzlich stottert, das hat er vorher nicht gemacht. Und
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sie erzählte vom Vater, daß sie mit ihm immer Lieder gesungen hat und er für jedes der Kinder eine eigene Strophe gedichtet hat. Sie hat mir das alles vorgesungen, ich hätte es aufschreiben sollen, nun weiß ich's nicht mehr. Es waren so wunderschöne Lieder!! Und wie sie gesungen hat, also MAN WAR WIRKLICH – MAN WAR SOWAS VON BESCHENKT – ES WAR WIRKLICH SCHÖN. Und ich habe auch mit ihr Lieder gesungen, gemeinsam, und ihr das vorgesungen, was sie nicht kannte. Sie sagte auch, sie kann nicht schlafen, und so hab ich gesungen: „Schlaf Kindlein schlaf, der Vater ist ein Schaf, die Mutter schüttelts Bäumelein“ – und da dachte ich, in diesem Zusammenhang hab ich das vorher nie gesungen, also, daß die da beide so von oben ... da war dann eben auch die Frage, wieweit kann ich gehen, ist es hilfreich, zu reden vom Leben nach dem Tode – vom Körper, der nur eine Hülle ist, wurde sie in so einer Form erzogen, hilft's ihr oder zerstör ich was? Also war ich lieber etwas abwartend. Dann, drei Tage später, rief sie wieder an, war sehr bedrückt, die Brüder waren mittlerweile auch bei der Großmutter, vorher hatte man sie ja vorübergehend in Berlin gelassen und bei einer befreundeten Familie untergebracht. Sie sagte mir wortwörtlich: „NIEMAND HAT MICH LIEB – ich werd nie mehr jemanden lieb haben, dann kann mir auch keiner weh tun – und außerdem find ich das gar nicht gerecht, daß Vati, Mami und Simon oben im Himmel sind und wir müssen hier unten bleiben.“ Sie sagte auch noch, sie und die Brüder könnten ja in die Badewanne gehen, untertauchen, und dann sind sie weg. Sie haben der Elke davon erzählt, aber die hat gesagt, der Mami wär das nicht recht. Ich habe dann auch mit der Elke gesprochen, und sie teilte mir mit, daß die zwei Jungs für die Zukunft in Berlin-Zehlendorf unterkommen könnten, bei der befreundeten Familie, aber weil da schon vier Kinder sind, können sie die Constanze nicht auch noch dazunehmen. Elke war alleinstehend, machte irgendwas mit Pädiatrie, und bei der Großmutter war's ja auf die Dauer auch nichts, nun, wohin mit ihr? Das ist DER PUNKT, DER UNS AM ALLERMEISTEN GESCHAFFT HAT. Wir haben überlegt, sind wir damit gemeint? Man muß doch helfen! Dann hieß es, die Elke kommt nach Berlin, muß mit der Wohnung einiges klären, sie auflösen, da haben wir uns dann verabredet und auch getroffen. Das war am 1. Mai. Ich bin mit Else hingegangen, Tilman blieb zu Hause mit Diethardt, wegen seinem Gipsbein, die Sache war nicht so ohne – und übrigens, den Arzt hatte mir noch die Mutter Mandelbaum empfohlen, das war auch so eine Sache, er war in der Bleibtreustaße, ich sage nur: GELD, alles schnieke, teure Sachen, nicht mein Ding. Wir waren ganz unglücklich dort, medizinisch auch ...
Tilman: Einfach den Gips nur abgemacht und neu drauf. Der saß auch nicht.
Else: Direkt auf die Haut, ohne was drunter!
Tilman: Das war aber dann die Schwester, die das gemacht hat.
S.-E.: Das war nichts, nee, aber der paßte auch zu der ganzen Sache, der Arzt [lacht plötzlich laut und hektisch], na ja, dann haben wir uns also mit der Elke getroffen, es war ein schöner Maientag und in dem Café, wo ich gern mit Ihnen heute auch sitzen würde, wir warteten auf die Frau, und ich fühlte, plötzlich: SIE KOMMT NICHT AUS DER ECKE, WOHER SIE SAGTE, DASS SIE KOMMEN WÜRDE, also geographisch, meine ich. Irgendwas stimmte nicht mit der Zeit, mit dem Weg. Dann kam eine blonde Dreißigjährige. Eine ruhige Frau. Sie war hell im Gesicht, freundlich, für mich so ein Bild von: Westdeutsche vom Lande, mit Bildung und studiert. Aber ES SPRANG NICHTS ÜBER. Ich dachte, klar, sie hat Probleme. Wir haben ihr unser Brotkörbchen überreicht für Constanze, das Püppchen hatten wir reingetan.
Else: Mit so 'nem Schleier drumrum.
G.G.: War sie dick, die Elke, mehr so wie ich?
S.-E.: Na, sie war so in der Mitte von uns beiden, ich bin rund, also, etwas mehr vielleicht, sowas, so könnte man sagen ...
Else: Also sehr dünn war sie nicht, nicht schmal, also ich weiß kaum noch, wie sie aussah, aber doch mehr so wie du, Ursel.
S.-E.: Jedenfalls erzählte sie von all den Problemen jetzt, eben auch von dem mit Constanzes Unterbringung. Das war schon ein starker Druck für mich, aber ich habe mir gesagt – hier im Kalender steht's: „LOSLASSEN!!“ – Urselchen, laß los! Das ist nicht deins. Das ist der allerwichtigste Punkt für mich. Es war mir klar, eine Großmutter steht dahinter, und da ist GELD, EINE MENGE GELD, das hatte Elke dann sogar wörtlich gesagt, dann war da ISRAEL, also – LEUTE MIT GELD UND BILDUNG, mit wirklich ganz anderen Interessen und Bedürfnissen, als wir sie haben, ja und mit einem kleinen Kind, das ganz einfach nicht reinpaßte in unsere bescheidenen Verhältnisse. Aber so war es wiederum nicht, sie hat mit keinem Hauch was gesagt davon, ob Constanze eventuell zu uns oder so ... nein, SIE WAR GAR NICHT INTERESSIERT AM KONTAKT mit uns, diese Elke. Was sie eigentlich von uns wollte, weiß ich nicht ...
Else: Sehen – sehen, mit wem man spricht.
S.-E.: Das glaub ich auch. Vorgestellt hab ich mir eine ganz andere Frau, DISTANZIERT, ABER TROTZDEM EINE VERBINDUNG ZU UNS AUFNEHMEND. Das fand nicht statt. Sie kam, man sprach ein wenig, dann ging sie wieder. Innerlich habe ich bereits gemerkt, als sie mir das Foto und die Zeichnung von Constanze gab, da stimmt was nicht. Ich versteh was von Kindern, ich habe zwanzig Jahre mit Kindern gearbeitet, u.a. als Kinderkrankenschwester und als Kindergärtnerin, also dieses Kind da [tippt auf das Foto], das ist ein Kind, das man natürlich sehr gerne haben kann – sofort –, ich habe keine Abwehr, aber DAS IST EIN MODERNES KIND, dieses Kind, und dann die Elke zusammen mit der Großmutter, Israel, mit dem Geld, zusammen mit der Bildung – das alles, dieses Milieu ...
G.G.: Haben Sie sich das Kind dunkelhaarig vorgestellt, jüdischer?
S.-E.: Nee, das Blonde störte mich nicht, und dieses Jüdischsein, das hat mich nicht weiter interessiert – außer DER PUNKT ISRAEL. Wenn ich das sagte, „Israel“, dann hab ich's umwoben mit der Geschichte des Vaters, vielleicht hat er was Geheimes gemacht, wo man die Telefonnummer hat verbergen müssen, die wirkliche. Man wußte ja nicht, ob vielleicht Leute NACH SEINEM LEBEN GETRACHTET haben, vielleicht war der Unfall gar keiner? Hhm. – IRGEND EIN WICHTIGER MENSCH! Jedenfalls, ich habe das Foto von Constanze gesehen, und da hat's bei mir in meinem Herzen so gemacht, ich hab's nicht gezeigt, WEIL MAN DAS EINFACH NICHT MACHT, IN DER FORM.
G.G.: Und das haben Sie alles aufgrund dieser Fotografie gewußt?
S.-E.: Wie gesagt, ich habe früher sehr viele Kinder betreut, und da gibt es diese ... da war ich oft erschüttert über Vierjährige, ich habe getobt und gesagt, DAS SIND ALLES SOLCHE ABGEKLÄRTEN, AUFGEKLÄRTEN Kinder, mehr abgeklärt. Wenn sie diese Spiele [wird schrill], SEI ES MIT DEM OSTERHASEN oder andere, nicht einmal mehr im Scherz mitgespielt haben, von vorneherein alles nur über den Kopf geklärt haben. So ein Kind ist dann flach an mancher Stelle, es ist SEELISCH FLACH! Und die Zeichnung von der Constanze war, was das angeht, eine richtiggehende Enttäuschung. DIE SEELISCHE TIEFE von Constanze am Telefon mußte ein ganz anderes Bild ergeben, nicht so eine vollkommen uninteressante Zeichnung, unkindlich gradezu. Also loslassen von Constanze! Denn selbst wenn ich das Kind zu uns nehmen würde, wir es adoptieren würden, wäre das 'ne Hilfe für das Kind? Es wäre keine Hilfe!
G.G.: Wie kam es denn überhaupt zu dieser Überlegung mit der Adoption?
S.-E.: Na, weil so ein kleiner Mensch alleine in der Welt ist ...
Else: Und auch wegen der Schule, daß, wenn sie in die gleiche Schule geht, wir dann alle gemeinsam ... weil wir ja Fahrgemeinschaft haben ...
S.-E.: Genau, genau! Also mit der Constanze allein hätte es wohl keine Probleme gegeben, aber ich hatte Sorge, daß die Erwachsenen intervenieren. Die ERWACHSENEN! Die Großmutter hätte mir mit Sicherheit ...
G.G.: Haben Sie mit der Großmutter eigentlich jemals ...
S.-E.: ... hab ich nie telefoniert, nee. Aber das konnte denen gar nicht passen, so wie ich den Rahmen und das alles kennengelernt hatte, und die Großmutter wollte ja auch die Kinder gar nicht loslassen! Und, äh – es gab ja auch noch andere Gründe dagegen, Diethardt – zum Beispiel wohnt er jetzt gar nicht mehr hier bei uns, das zeichnete sich alles schon sehr stark ab, damals, aber das ist eine andere Geschichte, die gehört nicht hierher. Jedenfalls ist es doch so, wenn man selbst in Not ist, sich bedrückt fühlt und existentiell bedroht, dann kann man sicherlich nicht auch noch für einen fremden Menschen die Verantwortung übernehmen.
Else: Aber überlegt haben wir schon, sie war dann ja auch so entsetzt, daß sie von ihren Brüdern getrennt werden sollte.
S.-E.: Ja. Ach, das war ein schrecklicher Konflikt für uns. Und am Telefon wurde die Constanze immer stiller, ich dachte, mein Gott, das Kind kann bald gar nicht mehr sprechen vor Kummer, so schlimm war alles. Und nun wieder zurück, mal sehen, was haben wir da ... den 4. Mai, da steht eingetragen: „18 Uhr Glockenläuten mit Constanze“, da hatten wir grade telefoniert miteinander, während die Glocken läuteten. Dann, am nächsten Tag war Samstag, in der Schule das Frühlingsfest, sehr schön, da steht nichts weiter, und dann am 11. Mai, einem Freitag: „BEERDIGUNG VON BARBARA MANDELBAUM!!“ Die Constanze rief an, sie war ganz gefaßt und sagte nur: „Nun ist sie weg.“ UND DA HABEN WIR „SHALOM“ GESUNGEN MIT ALLER INBRUNST, das war am Abend und sehr schön.
G.G.: Und sie, sang sie mit?
S.-E.: Ja – ja – ja, und wie sie gesungen hat! Sie konnte den Text. Und dann sagte sie mit diesem Stimmchen: „Du, die Jungen haben mich doch bestimmt immer lieb, ja?“ Dann gab sie mir Gunnar, ich hab kurz mit ihm telefoniert ...
G.G.: Wer ist Gunnar?
S.-E.: Der Bruder von ihr. Das hatte sie ja gesagt, der stottert jetzt seit neuestem. Und tatsächlich, da war eine Knabenstimme. Er stotterte und sagte, er geniert sich ja so schrecklich dafür, aber es hört nicht auf, unglaublich! Also, der Gunnar ging in die zweite Klasse, war also acht bis neun Jahre alt, und Christoph, der ältere Bruder, ging in die vierte, die wären heute übrigens genauso alt wie ihr, nicht? Na, ich habe ihm gesagt, du, ich bin die und die, du weißt es ja schon, und wie geht's euch. Was man eben so redet, und dann war Constanze wieder dran, sie sagte was, das ist mir unvergeßlich: „Du, MEIN HERZ GEHT TOT!“ Um mir zu verstehen zu geben, ich kann nicht mehr, ich weiß nicht weiter. Es war kaum auszuhalten für uns. Aber weiter: Also, unsere Else, die hat ja am 13. Mai Geburtstag, und denken Sie mal, die Constanze rief an, das hatte sie sich gemerkt, sie hatte einen Kloß im Hals, dann aber trotzdem der Else zum Geburtstag gratuliert, was ich unheimlich dufte fand. Den Geburtstag von Constanze hab ich mir auch vermerkt, der war am 5.6.1984. Und dann, am 14. Mai, einem Montag, da mußte Tilman mit Fieber zu Hause bleiben, siehste, da bin ich gar nicht in den Hort gegangen an diesem Tag. Constanze rief am Abend erst an und sagte mit so einer komischen Stimme, daß sie jetzt ein Geheimnis hat von einem ollen Walter, und erst etwas später, als sie wieder anrief, sagte sie: „Ich hab gekotzt – der hat mich geküßt – ich bin doch ein Mädchen“ – und: Ich kriege Haue, wenn ich was sage! Und dann sagte sie noch: „Aber der ist jetzt weggefahren.“ Ich war ganz entsetzt, sage, du mußt das der Elke erzählen – es war ja der Freund von der Elke –, aber sie sagt, nee, das darf ich nicht, ich kriege sonst Haue, und dann hat sie mich richtiggehend angefleht: „WENN DU MEIN GEHEIMNIS VERRÄTST, DANN HAB ICH DICH NICHT MEHR LIEB!“ Und am nächsten Abend, da bin ich von meiner abwartenden Haltung abgewichen und habe gesagt, du mußt es der Elke sagen, es geht nicht anders, ich glaube, ich bin richtig dringlich geworden und streng. Das war der 15. Mai, ein Dienstag, es war zugleich der letzte Abend mit Constanze. Danach steht immer nur im Notizbuch: „Kein Anruf von Constanze ... kein Anruf ... kein Anruf ...“ Dann habe ich natürlich gemacht, was alle gemacht haben, habe die Telefonnummern angerufen, die ich hatte, von der Großmutter, von Elke, meldete sich niemand. Ach, und das hab ich ganz vergessen zu erzählen, zwischendurch mal, als die Constanze auch Fieber hatte, DA HAB ICH IHR DIE FIEBERZÄPFCHEN GESCHICKT, DIE UNS SO GUT GEFALLEN – und ich hatte ihr am Telefon von Engelein erzählt gehabt und ihr halt eine Karte geschickt, WO DIE ENGELEIN AUF LAUTER ZÄPFCHEN ZU IHR HINFLIEGEN! Die Karte kam zurück, mitsamt den Zäpfchen. Gut, dachte ich damals noch, hat man sich irgendwie vertan, das hat mich nicht irritiert. Aber diese Situation schon, daß ich niemanden erreichen konnte. Dann habe ich mich in der Schule erkundigt, den ganzen Waldorf- Einrichtungen, unsere Sekretärin gefragt, wieder nichts! Dann, weil Gunnar ja in die zweite Klasse
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Fortsetzung
ging, in der Clayallee angerufen, Hildebrandtheim – das sind die Einrichtungen für die Kinder – auch nichts. Danach hatte ich eigentlich Lust, es aufzugeben. Wir sind aber doch noch zu dem Haus hingegangen, am Lietzensee, wir hatten keine Nummer, nur die Straße, wo die ganze Familie Mandelbaum mal gelebt hatte. Wir wußten, das hatte die Constanze uns erzählt, die Mutter kann mit dem Rollstuhl zum Hauseingang reinfahren, muß nur eine Stufe überwinden. Wir sind in jeden Hauseingang reingegangen, haben geguckt, WO IST NUR DIESE STUFE? WIR HABEN SIE NICHT GEFUNDEN.
Ja, das war also unsere Geschichte, und ich merke, ehrlich gesagt, wie schwer es mir immer noch fällt, daß das alles nicht ... Aber natürlich ... WIR SIND FROH, DASS WIR KEINE CONSTANZE ALLEIN IN DER WELT WISSEN und DASS DAS IN EINEM ERWACHSENEN LEBT, IST IN ORDNUNG. Hier an diesem Tisch haben wir gesessen, als ich den Kindern Ihren Text vorlas von der Frau Professor M., den ich übrigens sehr schön erzählt fand, ja, und die Kinder waren ... wie soll ich sagen ... sie waren überrascht, ja. Ich habe ihnen erklärt, schaut mal, da ist jemand in Not, deshalb tut er das. Aber Tilman hat gesagt, nee, es war nicht richtig, daß sie das mit uns gemacht hat, wir sind doch so mitgegangen. Aber jetzt sind sie beide auch froh, daß es die Constanze nicht gibt. Vielleicht ist das grade das Interessante an dieser Frau, die das jetzt immerzu macht, daß sie anscheinend sehr hellhörig ist, JEDER KRIEGT SEINE GESCHICHTE von ihr, und es ist ja SO, DASS MENSCHEN SICH WIRKLICH BESCHENKT FÜHLEN.
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