Glaubwürdigkeitskrise der Marktradikalen: Die Ausreden der Neoliberalen

Die neoliberale Wirtschaftsphilosophie gilt als Ursache für die erste große Finanzkrise des 21. Jahrhunderts. Ihre Verfechter suchen nun nach Wegen aus ihrer Glaubwürdigkeitskrise.

Teurer Protest: T-Shirts in Berlin. Bild: dpa

Ende 2008 herrschte Panik in der Finanzwelt. Die Finanzmärkte waren zusammengebrochen, die Aktienkurse fielen dramatisch, und Politiker diesseits wie jenseits des Atlantiks forderten, einen Teil der Banken zu verstaatlichen. Schon bald zeichnete sich ab, dass auch die Realwirtschaft von dieser Krise schwer in Mitleidenschaft gezogen würde. Viele Ökonomen erinnerte die Situation an die Große Depression Anfang der 1930er-Jahre, den bislang schlimmsten Niedergang der jüngeren Wirtschaftsgeschichte.

Als eigentliche Ursache für die erste große Finanzkrise des 21. Jahrhunderts gilt überwiegend die neoliberale Wirtschaftsphilosophie. Sie habe seit Jahrzehnten dazu geführt, dass die Staaten die Finanzmärkte weltweit dereguliert und der Gier der Manager keine Grenzen gesetzt hätten. Zudem habe die Politik zu stark auf eine unternehmerfreundliche angebotsorientierte Wirtschaftspolitik gesetzt. So sei ein brutaler, egoistischer und nicht nachhaltiger Kapitalismus entstanden. Besonders die US-Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und Paul Krugman halten die neoliberale Idee deswegen für gescheitert.

Dem widersprechen die meisten Leitartikler der großen US-Wirtschaftsmedien vehement. Es habe zwar Auswüchse gegeben, weil besonders die Banken ihre Geschäfte zuletzt mit viel zu wenig Eigenkapital hinterlegt hätten. In diesem Bereich stimmen auch die Neoliberalen strengeren Regeln und besseren Kontrollen zu. Die Märkte seien jedoch zuvor keineswegs übermäßig liberalisiert worden, weder in den USA noch in Europa.

Sie argumentieren so: Es ist in der Zeit des Thatcherismus und der Reaganomics viel darüber geredet worden, dass sich der Staat möglichst zurückhalten und die Finanzmärkte freier agieren lassen solle. Doch habe der Boom der Finanzbranche die Staatskassen vor allem in den USA und Großbritannien so üppig gefüllt, dass sie damit einen Gutteil ihrer Haushalte finanzieren konnten. Entgegen der linken Kritik ist die Staatsquote, also der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, gestiegen. 2008 erreichte sie in den USA 38,6 Prozent und in Großbritannien sogar 45,8 Prozent – mehr als in Deutschland, wo sie 43,5 Prozent beträgt.

Wichtiger noch ist den Neoliberalen, herauszustreichen, dass sie grundsätzlich missverstanden werden. Darauf berufen sie sich traditionell gern. Schon 1927 beklagte der Ökonom Ludwig von Mises in seinem Buch Liberalismus, dass man die Idee zu Unrecht für die damalige Wirtschaftsmisere verantwortlich mache. Wie in der heutigen Debatte distanzierten sich die Neoliberalen nach der Krise von ihrer Philosophie des Laissez-faire und der Entstaatlichung. Sie hätten sich sonst isoliert – in den USA und in Europa galten staatsinterventionistische Programme wie der New Deal des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt als allgemein anerkannte Mittel der Wirtschaftspolitik.

Der Ökonom und Mises-Schüler Friedrich August Hayek trug dem Misstrauen gegenüber dem allzu freien Kapitalismus Rechnung und schrieb 1944, »dass wir in Fällen, in denen die Bedingungen für das richtige Funktionieren des Leistungswettbewerbs nicht hergestellt werden können, die automatische Regulierung durch staatliche Lenkung ersetzen müssen«. Ähnlich klingen heute die Argumente des neoliberalen Wirtschaftsprofessors Hans-Werner Sinn oder des ehemaligen US-Finanzministers und Chefs der Investmentbank GoldmanSachs, Henry Paulson. Hayek sagte aber auch, was die dreistesten Neoliberalen in den USA bereits wieder behaupten: Die Fehlinvestitionen von Banken und Unternehmen, die zur Finanzkrise geführt haben, seien auf Fehler des Staates, insbesondere eine verfehlte Wirtschaftspolitik und falsche Regulierungen, zurückzuführen.

In den USA fordern dennoch viele Republikaner, das Wirtschaftsprogramm der konservativen Partei so zu verändern, dass die Rolle des Staates für eine funktionierende Wirtschaft anerkannt wird. Die angebotsorientierte Politik mit Steuersenkungen und Deregulierungen habe ihre Berechtigung gehabt, als es in den 1970er-Jahren galt, die Stagflation zu überwinden. Heute aber dürfe nicht mehr der risikofreudige Unternehmer im Fokus der Wirtschaftspolitik stehen, schreibt der republikanische Starpublizist David Brooks in der New York Times, sondern die Arbeitnehmer, die in den letzten Jahren nicht vom Boom profitiert haben und nun von Arbeitslosigkeit bedroht sind – damit man sie nicht endgültig als Wähler verliert. Andere Republikaner halten am bisherigen Denken fest: dass möglichst niedrige Steuern gerade für die Wohlhabenden der Schlüssel zum Erfolg sind, weil nur sie neue Arbeitsplätze schaffen.

Einig sind sich die Republikaner allerdings in ihrer Furcht vor der rasant steigenden Staatsverschuldung. Ihre Kampagnen haben Erfolg: Präsident Obama verspricht schon, die Staatsverschuldung möglichst bald einzudämmen. Und die deutsche Bundesregierung hat sogar eine gesetzliche »Schuldenbremse« beschlossen: Der Bund muss seine Neuschulden bis 2016 auf höchstens 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes begrenzen; die Bundesländer dürfen ab 2020 überhaupt keine neuen Kredite mehr aufnehmen. Der Staat wird also künftig seltener als heute lenkend oder fördernd in die Wirtschaft eingreifen können – das neoliberale Denken entfaltet weiterhin seine Wirkung.

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