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Archiv-Artikel

Glaube will immer Totalität

betr.: „Die ewigen Rechthaber“

Wenn ich Harald Welzer auch auf weite Strecken zustimmen kann, so bleiben mir ernste Zweifel. Plagt ihn selber das Erbe von Bekenntnisrhetorik, eine gewisse Starrheit zum Eindeutigen? Sind die von ihm zu Recht beklagten blinden Flecken wirklich ein Mangel an intellektueller Redlichkeit? Mich ärgert diese Vorwurfshaltung; als könnte es so einfach sein, mit dem Verstand die bekannten Informationen richtig zu bewerten und sie dann mit der Vernunft in den Kanon eigenen Wissens und Handelns zu übernehmen. Verstand und Vernunft sind sehr schwächliche Werkzeuge beim Erforschen und zum Verändern der Gebirge des Unbewussten.

In „Täter“ beschreibt Welzer ein Modell zur Erklärung der sozialpsychologischen Dynamik des Genozids. Auch dieses Modell muss wohl als ein kognitives verstanden werden. Solcher Glaube an die Macht des Kognitiven führt ebenfalls zu einer gewissen Starrheit zum Eindeutigen – wie jeder Glaube. Glaube will immer Totalität. Totalitäre Systeme sind solche, in denen die größte Gewissheit darüber besteht, was richtig und was falsch ist. Am Beispiel des Grass-Outings könnten wir alle uns unseren persönlichen Ambivalenzen annähern, könnten von Schuldzuweisungen gegen andere nun uns der eigenen Selbstverantwortung annähern, könnten erkennen, wo wir glauben und wo wir fühlend zu verstehen beginnen.

Vielleicht werden uns die späteren Generationen ebenso harsch fragen, wie wir derzeit mit Abhängigen umgehen. Warum sich ganz normale Deutsche mehrheitlich in erstaunlich kurzer Zeit für die Unmenschlichkeit unserer Asylantenheime oder Pflegeheime entschieden haben, ist bis heute ebenfalls unbeantwortet geblieben. Sie könnte aus denselben Wurzeln stammen wie einst der Nationalsozialismus unserer Eltern und Großeltern. JANS BONTE, Kiel

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