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Glasnost präziser als TASS

■ Dissidentenzeitung berichtet aus Aserbeidschan / Behörden unterbrachen die Versorgung in Stepanakert / Zahl der Opfer soll weitaus höher sein als bisher bekannt: Mehr als 100 Tote

Moskau (afp) - Über 100 Tote hat es nach Angaben des Chefredakteurs der sowjetischen Dissidentenzeitung Glasnost bei Zusammenstößen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern in der vergangenen Woche in Sumgait gegeben. Die meisten Opfer der Ausschreitungen in der aserbaidschanischen Stadt seien Armenier, erklärte Sergej Grigoriants am Sonntag. TASS hatte sich erstmals am Freitag zu den Vorfällen vom vergangenen Sonntag geäußert, dabei jedoch nur von 31 Toten gesprochen. Grigoriants berief sich bei seinen Angaben auf 25 Bewohnerinnen von Sumgait, die sich mit ihren Kindern nach den schweren Zusammenstößen zunächst in die 40 Kilometer südlich gelegene Stadt Baku und später in die armenische Hauptstadt Eriwan geflüchtet hatten. Nach den Zwischenfällen fanden am Donnerstag in Sumgait „eindrucksvolle Beerdigungsfeiern“ statt, bei denen laut Grigoriants ein beträchtliches Militäraufgebot anwesend war. Um erneute Unruhen zu verhindern, hätten die Angehörigen der Toten jedoch nur in kleinen Gruppen den Friedhof betreten dürfen. Die KPdSU und die Regierung von Aserbeidschan hatten den Angehörigen Beileidsschreiben gesandt. Die Zahl der Verletzten könnte nach Informationen von Grigoriants höher als zunächst angegeben sein. Er selbst hatte am Donnerstag von 70 Schwerverletzten gesprochen, während sich TASS über eventuelle Verletzte ausgeschwiegen hatte. In inoffiziellen aserbaidschanischen Kreisen in Moskau war am Freitag von 300 Verletzten die Rede gewesen. Die 200.000 Einwohner zählende Industriestadt Stepanakert war in der vergangenen Woche Schauplatz von Nationalitätenunruhen zwischen moslemischen Aserbaidschanern und christlichen Armeniern geworden, die in Sumgait in der Minderheit sind. Sie hatten sich als Reaktion auf die Demonstrationen in Nagorny–Karabach ereignet, bei denen im vergangenen Monat nach Angaben von armenischer Seite zwei Aserbaidschaner getötet und 16 bis 18 Armenier verletzt wurden. Grigoriants wollte sogar von „zahlreichen Toten“ in dieser Region wissen, doch konnte er keine genauen Zahlen nennen. Der Glasnost–Redakteur berichtete, in Stepanakert hätten die Behörden die Versorgung unterbrochen, um „die Bewohner zur Beendigung der Streiks“ zu zwingen. Inzwischen seien alle Geschäfte leergekauft. Bis Freitag habe es in dieser Stadt Demonstrationen gegeben. Aber auch in Eriwan habe es vor drei Tagen eine erneute Kundgebung vor der Akademie der Wissenschaften gegeben.

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