■ Ökolumne: Gigantonomics Von Stephan Brückl
Fünf Jahre Wiedervereinigung, drei Jahre europäischer Binnenmark in Zahlen: sechs Millionen Arbeitslose, Rückgang des Volkseinkommens, Abbau des Sozialstaats. Das bedeutet Polarisierung. Die Stimmung ist schlecht. Nichts wächst mehr. Außer dem Verkehr. Der Standort soll seine Vorteile verloren haben. Ähnliches hört man aus allen europäischen Ländern. Merkwürdig, die größte Rezession in Europa seit der Weltwirtschaftskrise. Und das nicht vor, sondern nach der Vollendung des Binnenmarkts. Vielleicht wird sich schon gar keiner mehr erinnern, aber die Begründung war verlockend: Arbeitsplätze, niedrigere Preise, höhere Einkommen, saubere Umwelt.
Saubere Umwelt? Nein, die spielte damals schon keine Rolle. Es gab zwar einen Task- Force-Report, der vor den ökologischen Folgen warnte, aber den kennt niemand. Fünf Millionen Arbeitsplätze waren versprochen. Allerdings nur im Falle staatlicher Nachfrage-Programme, und die waren unbeliebt. Kritik kam von seiten der Unternehmerschaft, der Mittelstand äußerte seine Ängste. Auch die spielten keine Rolle. Was spielte überhaupt eine Rolle?
Zentrales Argument dafür, die befürchtete Eurosklerose durch den Binnenmarkt zu überwinden, waren die sogenannten Größenvorteile. „Zersplitterte Industrien“ sollten bereinigt, Standorte konzentriert, dadurch bei gleichen Fixkosten höhere Stückzahlen erreicht werden, so daß die Produktionskosten je Stück reduziert würden. Was sind zersplitterte Industrien? Eine zersplitterte Industrie ist ein Markt. Und der sollte überwunden werden? Irgend etwas stimmt hier nicht. Das laufende Spiel sieht und sah ungefähr so aus: „SOS – europäische Großindustrie, im Kampf mit amerikanischer und japanischer Großindustrie, benötigen Unterstützung bei teurer Großforschung und kostenlose Infrastruktur zur Ausnutzung von Kostendifferenzen. Danke, Ende.“
Standortarbitrage nennt man das. Forsche, wo die Gesetze am lockersten, produziere, wo die Löhne am niedrigsten, versteuere, wo die Steuern ... Zahlen die Konzerne eigentlich überhaupt noch Steuern? Eigentlich müßten sie. Wer über Kontinente hinweg „global production“ betreibt, braucht Straßen statt Fließbänder. Und die kosten nicht wenig. Soll der Staat doch zahlen. Wer ist der Staat? Der Steuereintreiber. Bei wem? Bei Lohnempfängern und Unternehmen, die vor Ort sitzen. Interessant. Arbeitnehmer und Kleinunternehmen finanzieren über den Umweg der Staatsausgaben Konzerne, die alles tun, um (Klein-)Konkurrenz zu beseitigen und Arbeitsplätze zu verlagern.
Nehmen wir mal an, es käme die Ökosteuer. Wen würde die treffen? Als Energiesteuer vor allem die, die fahren (statt zu produzieren). Auf der anderen Seite würden Beschäftigte und Kleinunternehmen gemeinsam profitieren. Ganz neue Allianzen. Zurück zur laufenden Entwicklung: Standortschließungen, Massenentlassungen bei Automobilbau, Maschinenbau, Luftfahrt, Elektronik. Was bleibt da noch? Die meisten anderen Branchen wurden mit dem Argument, daß es die Exportindustrien schon schaffen würden, den steigenden Importen geopfert.
Was wir beobachten, nannte Leopold Kohr, geistiger Vater des „small is beautiful“, Lawinenmentalität. Man glaubt, der Vorteil liege in der Größe, schließt sich zusammen, andere schließen sich an. Gemeinsam geht es dann um so schneller bergab.
Dabei ist die Bewegung noch gar nicht richtig ins Laufen gekommen. Mit Gatt wird sie es. Drei Milliarden Beschäftigte sind heute weltweit noch in der Landwirtschaft beschäftigt. Mit Gatt wird die auch energiepolitisch absurde Industrialisierung der Landwirtschaft endgültig durchgesetzt, so daß bald nur noch 10 Prozent der Beschäftigten dort bleiben können. 90 Prozent von drei Milliarden sind 2,7 Millarden. Gatt wird damit zum größten Beschäftigungsvernichtungsprogramm, das die Welt je gesehen hat. Damit ist es zugleich das größte Migrationsförderungsprogramm.
New York ist unregierbar. Der Club of Rome fragt mittlerweile, ob Europa auch unregierbar ist. Die Größenideologie wird sich auch in ihrer kapitalistischen Version totlaufen. Wäre eine selbststeuernde, dezentrale, regionale, mittelständische ökologische Kreislaufwirtschaft die Alternative? Es spricht viel dafür, auch einiges dagegen. Derweil hält die EU unbeirrt an den Größenphantasien fest. Nur daß neuerdings auch die Kleinen größer werden sollen.
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