Gibt es eine weibliche Moral?

■ Das „Heinz-Dilemma“ und die spätgezündete deutsche Debatte über geschlechtsspezfische Moral

Daß Frauen stets und gerne bereit sind, sich den Kopf über andere Leute zu zerbrechen, gehört zu unseren alltäglichen Lebenserfahrungen. Daß diese ausdauernd geübte Beschäftigung mit Beziehungsproblemen auch einen Unterschied im moralischen Denken von Frauen und Männern markieren könnte, ist eigentlich nicht überraschend, bildet aber dennoch einen Stolperstein für jede Theorie der Moral.

Neben der männlichen gibt es eine spezifisch weibliche Moral, die sich nicht auf die männliche reduzieren läßt, sondern ihr gegenüber konkurrent ist: Diese These der amerikanischen Entwicklungspsychologin Carol Gilligan hat in den einschlägigen Wissenschaftskreisen enorme Diskussionen ausgelöst. Gilligan war in ihren gemeinsam mit Lawrence Kohlberg durchgeführten Untersuchungen zur Entwicklung des moralischen Urteils aufgefallen, daß Frauen durchweg „schlechter“ abschneiden als Männer: Auf einer Stufenfolge von 1 bis 6, die die Entwicklung von gehorsamer Orientierung an vorgegebenen Regeln bis hin zu einem reflektierten Standpunkt der Unparteilichkeit und universalen Gerechtigkeit markiert, erreichten Frauen so gut wie nie die von den männlichen „Konkurrenten“ der verschiedenen Altersstufen erklommenen Stufen. Was für Kohlberg und seine Kollegen schlicht Ausdruck mangelnder moralischer Urteilsfähigkeit war, war für Gilligan Anreiz, durch eigene empirische Untersuchungen ihren Verdacht zu begründen, es gebe eine spezifisch weibliche Moral.

Klassisches, immer wieder gern zitiertes Beispiel für die problematischen Differenzen ist das sogenannte (schon von Kohlberg in seinen Interviews benutzte) „Heinzdilemma“: Konfrontiert mit einer moralischen Konfliktsituation, in der ein (nicht finanzkräftiger) Mann („Heinz“) das Leben seiner todkranken Frau nur dadurch retten kann, daß er ein teures Medikament stiehlt, antwortet der befragte Junge, ohne hier überhaupt ein besonderes Problem zu sehen, daß das Medikament selbstverständlich gestohlen werden müsse, da schließlich Leben wichtiger sei als Eigentum und Geld. Das kleine Mädchen dagegen überlegt hin und her, ob der Mann nicht vielleicht durch einen Kredit an Geld kommen könne, fragt sich, wie die Frau sich wohl fühlen würde, wenn sie zwar gesund sei, der Mann aber ihretwegen im Gefängnis sitze, und bedenkt auch die Möglichkeit, ob man nicht mit dem Apotheker ins Gespräch kommen könne: Er müsse schließlich auch einsehen, daß etc...

War für Kohlberg diese Urteilsdifferenz klares Beispiel dafür, daß Mädchen moralisch noch nicht auf der Stufe von Jungens angelangt sei, so sieht Gilligan hier eine Differenz, die sich zwischen Frauen und Männern auch im Erwachsenenalter durchhält: Während Männer eher prinzipienorientiert, in Begriffen von Rechten und Pflichten denken und argumentieren und dabei eine „Gerechtigkeitsperspektive“ einnehmen, gehen Frauen von persönlicher Anteilnahme aus, orientieren sich in ihren Überlegungen an zwischenmenschlichen Beziehungen, Verantwortlichkeiten und damit eher an einer „Fürsorglichkeitsperspektive“.

Dieser Unterschied in der Perspektive dürfe nun, so Gilligan, nicht als defizient gegenüber dem männlichen Denken gesehen werden, sondern sei eine konkurrierende Sicht auf moralische Probleme, die die gleiche Berechtigung habe wie die männliche.

Das Problem, das sich damit für eine — und nicht nur für eine „männliche“ — Moraltheorie stellt, liegt auf der Hand: Unter „Moral“ verstehen wir normalerweise gerade die Prinzipien, deren Geltung für alle und für alle in gleicher Weise beansprucht werden können und müssen. Wenn wir nun mit Gilligan empirisch von zwei Moralen ausgehen, dann stehen wir vor dem Problem, normativ entweder — um der Universalität der genannten Prinzipien willen — irgendwie die eine in die andere zu integrieren oder aber zu sagen, daß moralische Regeln, jeweils nur für ein Geschlecht gültig seien — und diese Sorte Relativismus scheint nicht eigentlich wünschenswert zu sein. Gilligan selbst formuliert dies übrigens auch nur als Problem.

In Deutschland ist Gilligans Buch, obwohl es früh (1984) übersetzt wurde, wenig in der klassischen Moralphilosophie (Ausnahmen waren etwa G.Nunner-Winkler und J.Habermas) und ebensowenig in der feministischen Theorie (Ausnahmen sind hier zum Beispiel U.Annecke, A.Maihofer und F.Haug) rezipiert und diskutiert worden. Dies war und ist in den USA völlig anders: Mehrere Symposien waren dort ausschließlich der Diskussion der Thesen Gilligans gewidmet, und immer noch orientieren sich zahlreiche Theoretikerinnen an einer — mehr oder minder kritischen — Auseinandersetzung mit ihnen. Zwar gibt es auch bei uns inzwischen den Beginn einer Debatte um eine „weibliche Moral“ oder „feministische Ethik“, doch geht sie an der amerikanischen weitgehend vorbei.

Methodisch nicht sauber gearbeitet?

Nun ist ein neues Buch erschienen, das auch bei uns eine genauere Diskussion der Thesen Gilligans ermöglichen könnte: Weibliche Moral, herausgegeben von der Soziologin Gertrud Nunner-Winkler. Es sammelt Beiträge zur empirischen Debatte um Gilligans Thesen und zur philosophischen Kontroverse um Sinn und Möglichkeit einer universalistischen, prinzipienorientierten Gerechtigkeitsmoral. Dabei ist die Auswahl des Bandes von Nunner-Winklers These bestimmt, daß Gilligans Behauptung der geschlechtsspezifischen Zuordnung unterschiedlicher moralischer Urteile empirisch nicht ausreichend gesichert sei. Zwar seien Differenzen im moralischen Urteil von verschiedenen Personen feststellbar, diese seien aber durch unterschiedliche Grade von Betroffenheit nicht durch das Geschlecht erklärbar.

Weiterhin stelle die geschlechtstypologische Aufschlüsselung eine Reduktion möglicher anderer (zum Beispiel kultur- oder schichtenspezifischer) Einflüsse auf die Entwicklung des moralischen Urteils dar, und schließlich könne die ausschließliche Orientierung an der Geschlechterfrage der Vielfalt in der Ausprägung moralischer Urteile nicht gerecht werden. Soweit sich Unterschiede im moralischen Urteil verschiedener Personen feststellen lassen, sollten diese deshalb begriffen werden als differente Gewichtung positiver Pflichten (zum Beispiel „übe Wohltätigkeit“, „halte eingegangene Verpflichtungen ein“ etc.) gegenüber negativen Pflichten („nicht töten“, „nicht lügen“, „nicht stehlen“).

Gilligans Befund der weiblichen „Fürsorglichkeit“ wird also als stärkere Orientierung an positiven Pflichten interpretiert, die immer schon in der Ethik einen Platz hatten; damit wird ihren Thesen der geschlechtsspezifische Stachel gezogen: Die Ergebnisse müssen nicht, so Nunner-Winkler, zu einer grundsätzlichen Revision klassischer Moraltheorien führen, sondern lassen sich in diese integrieren.

Die von Nunner-Winkler zusammengestellten Beiträge sind denn auch an dieser These orientiert: Im ersten Teil finden sich, neben zwei Aufsätzen (von Benderley und Butler) zur Interpretation des Geschlechterunterschiedes, ein Beitrag von Gilligan und daran anschließend kritische Auseinandersetzungen mit ihrem empirischen Material: Gilligan habe methodisch nicht sauber gearbeitet (Nails und Walker), beziehungsweise ihre Ergebnisse müßten anders als geschlechtertypologisch interpretiert werden, nämlich als graduelle, nicht kategoriale Unterschiede des moralischen Urteilens, beziehungsweise als rollenspezifische Differenzen (Döbert und Nunner-Winkler).

Im zweiten Teil des Bandes sind Beiträge zur philosophischen Debatte gesammelt: Zunächst zur Frage nach der Verbindlichkeit positiver Pflichten, also dem Status von Fürsorglichkeit und Verantwortlichkeit in der Moral. Abgedruckt sind hier unter anderem Beiträge von H.Jonas und J.Habermas, die beide die prinzipielle Relevanz von Fürsorge, Wohlwollen und Solidarität in der Moral begründen. In einem nächsten Abschnitt sind Artikel zur Anwendungsproblematik dieser Theorie versammelt, also zur Frage, wie sich eine solche Ethik konkret auf Fragen etwa der Verpflichtung reicher gegenüber armen Ländern (P.Singer) oder derjenigen von Kindern gegenüber ihren Eltern (Hoff-Sommers) auswirkt. Schließlich finden sich in einem letzten Abschnitt Beiträge zur Problematik der Ausnahme von negativen Pflichten (also zum Problem der Rigidität beziehungsweise Kontextsensitivität), wie etwa der klassische Aufsatz von Kant zur prinzipiellen Geltung des Lügenverbotes und ein Beitrag von B.Gert zur Begründung der Zulässigkeit von Ausnahmen in der Geltung moralischer Prinzipien.

Feministische Diskussion ausgeblendet

Nunner-Winklers Sammelband enthält zahlreiche anregende Beiträge und kann zu einer Diskussion der Thesen Gilligans auch bei uns sicherlich beitragen. Zudem ist es sinnvoll, klassische Bezugstexte einer eher an positiven Pflichten und dem Verantwortungsbegriff orientierten Ethik und einer rigiden Prinzipienethik zusammengestellt zu haben. Aber zum einen ist es bedauerlich, daß die Kritik gänzlich fehlt, die aus der Ecke des sogenannten Kommunitarismus (zum Beispiel M.Walzer, M.Sandel) kommt: Ähnlich wie die feministische Kritik, aber nicht aus Gründen der Geschlechterproblematik, argumentiert sie gegen einen abstrakten Universalismus und für die Berücksichtigung partikularistischer Perspektiven.

Für entscheidender aber halte ich ein anderes Manko: Zwar lautet der Untertitel von Nunner-Winklers Band Die Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik, doch zentrale Beiträge aus der Diskussion um eine feministische Ethik fehlen. Nunner-Winkler reduziert die Ergebnisse Gilligans allein auf den allgemeinen, ihrer Meinung nach nicht geschlechtsspezifisch interpretierbaren Gegensatz von Fürsorglichkeit vs. Gerechtigkeit: Dadurch geht ihr genau die Perspektive verloren, die sich dem Entwurf einer feministischen Ethik und damit einer grundsätzlichen Revision klassischer Moraltheorien zuwendet.

Auch Nunner-Winkler spricht zwar von der „hohen alltagsweltlichen Plausibilität“ der Gilligan'schen Thesen, aber bei ihr findet sich kein Beitrag, der die geschlechtsspezifische Verteilung des moralischen Urteilens in philosophischer Perspektive ernst nimmt. Dabei läßt sich — gegen Nunner-Winkler — das empirische Material zumindest als signifikante Tendenz im Blick auf eine Differenz zwischen Frauen und Männern interpretieren (mehr tut Gilligan im übrigen auch nicht), und gerade dies wird von zahlreichen ForscherInnen auch getan.

Nimmt man als — grob skizzierten — Ausgangspunkt feministischer Theoriebildung zum einen, daß die Geschlechterordnung für die Ausbildung von Identität und die Vergesellschaftung von Individuen konstitutiv ist, und berücksichtigt man zum zweiten, daß diese Geschlechterordnung in unseren Gesellschaften die Diskriminierung und Unterdrückung von Frauen bedeutet, dann heißt dies, daß eine feministische Ethik sich kritisch auf eben diese Geschlechterordnung und die Konsequenzen, die sie für Frauen hat, beziehen muß.

Dabei gibt es im Blick auf die Untersuchungen von Gilligan im Prinzip zwei Möglichkeiten: Man kann zum einen der Meinung sein, daß eine feministische Ethik sich an diesen — positiv begriffenen — „weiblichen Werten“ orientieren muß und eine spezielle „Care-Ethics“ den Bedürfnissen und Forderungen von Frauen am besten gerecht werde. Eine solche Ethik ist meist auch geneigt, die Differenzen im moralischen Urteil bei Frauen und Männern biologistisch oder psychoanalytisch zu erklären (in diese Richtung geht übrigens auch Gilligan).

Eine zweite Möglichkeit, die den tendenziellen Relativismus der ersten zu vermeiden sucht, ist die, sich zwar an den konkreten Erfahrungen von Frauen zu orientieren und — jeglichen Biologismus ablehnend — die Differenz im moralischen Urteil als Folge sozialer Identitätskonstruktionen zu sehen, dennoch aber an der Idee einer universalistischen Moral festzuhalten und so dem Primat der Gerechtigkeit und Gleichheit in der Moral Rechnung zu tragen. Dabei kann man zwar der Meinung sein, daß ein solcher Versuch der Quadratur des Kreises gleichkäme, aber das ändert nichts daran, daß er weiter verfolgt wird und werden muß.

Die Sache mit der Fürsorglichkeit hat nämlich auch ihre Tücken; denn — darauf weist übrigens auch Nunner-Winkler in ihrem Beitrag zurecht hin — es wäre ironisch, wollte sich eine feministische Ethik allein auf diese angeblich weiblichen Werte berufen und zur gleichen Zeit die Forderung nach Quotierung erheben, die ja evidentermaßen eine der Gleichheit und Gerechtigkeit ist und zudem reichlich wenig mit Fürsorglichkeit zu tun hat. Gerade solche Widersprüche zwischen moralischem Denken von Frauen und den normativ erhobenen Forderungen sucht diese Spielart feministischer Ethik ja aufzulösen.

Zu dieser hier nun skizzierten Problematik gibt es in den USA seit langem eine heftige Debatte; einige der dort erschienenen Aufsätze kann man inzwischen auch bei uns nachlesen, etwa den Artikel von S. Benhabib zum Entwurf einer feministischen und dennoch universalistischen Ethik im Sammelband von List & Studer, oder die Skizze feministischer Ethikprojekte von A. Jaggar in dem nicht minder informativen, aber ebenfalls nicht speziell moraltheoretischen Fragen gewidmeten Band von Nagl-Docekal.

Zum einen hätte Nunner-Winkler dies jedoch nicht daran hindern sollen, gerade etwa den Aufsatz von Benhabib in ihrem Band mit aufzunehmen Kant oder Habermas z.B. waren schließlich vorher auch schon problemlos zugänglich); zum anderen fehlen bei uns andere zentrale Aufsätze aus der amerikanischen Kontroverse immer noch.

Debattenzusammenhänge kaum vorhanden

Wie bedauerlich diese Lücke in Nunner-Winklers Sammelband ist, zeigt ein — zugegebenermaßen kurzer — Blick in neuere hiesige Veröffentlichungen von feministischer Seite zur Frage der weiblichen Moral: So erschien etwa 1990 unter dem beziehungsreichen und etwas vollmundigen Titel femina moralia ein Heft der „Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis“ zum Thema; eine weitere Veröffentlichung aus dem Grenzbereich Philosophie und Frauenbewegung ist das von Ursula Konnertz herausgegebene Bändchen Grenzen der Moral. Ansätze feministischer Vernunftkritik. Beide versammeln ein buntes Potpourri von zum Teil historisch orientierten Aufsätzen, zum Teil eher vortheoretischen Betroffenenartikeln (vorzugsweise in Briefform) bis hin zu theoretisch versierten Auseinandersetzungen mit Fragen der Ethik (zum Beispiel U. Annecke, K. Brandt, M. Singer).

Aber angesichts der Disparatheit der Aufsätze, was ihr Niveau und vor allem ihren Inhalt angeht, bleibt man etwas ratlos: Es ist schwer vorstellbar, daß sich eine Diskussion entwickelt — etwa zwischen einem „Aufruf zu einer feministischen A-Moral“, einer Polemik gegen die angebliche moralische Selbstbezogenheit von Frauen (die empirisch überhaupt nicht belegt wird und etwa auch den Gilliganischen Untersuchungen genau widerspricht) und Beiträgen, die sich kritisch mit Gilligans Thesen, der Beziehung zwischen dem Verstehensbegriff und dem der Moral oder auch mit einer Reflexion auf die Ethikdebatte in Amerika beschäftigen.

Ich halte diese Disparartheit gerade nicht für eine Stärke, noch weniger für den Ausdruck einer „lebendigen“ Frauenbewegung oder feministischen Philosophie, sondern eher für den Ausdruck einer aporetischen Situation. Sie zeigt nämlich, daß es bei uns ungleich viel schwieriger als etwa in den Vereinigten Staaten ist, feministische Diskurse zu organisieren, weil etwa eine der amerikanischen vergleichbare Institution der „Women studies“ oder „Gender studies“ bei uns immer noch fehlt.

Dabei könnte gerade die Kontroverse um eine weibliche Moral auch die Probleme feministischer Theorie fokussieren, die seit Jahren immer wieder hin und her diskutiert werden. So findet etwa die Debatte um Differenz und Gleichheit auch in derjenigen um eine weibliche Moral ihren Spiegel. Angesichts der „hohen alltagsweltlichen Plausibilität“ der Gilliganischen Ergebnisse wäre es schön, wenn sich auch bei uns die schon vorhandenen Ansätze einer Debatte um die Interpretation dieser Thesen weiterspinnen würden — und zwar die geschlechtsspezifischen Differenzen ernst nehmend, aber nicht allein an unseren Befindlichkeiten orientiert, sondern an deren theoretischer Bearbeitung. Beate Rössler

Gertrud Nunner-Winkler, Hg., Weibliche Moral. Die Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik, Frankfurt a.M. 1991;

Femina Moralia, Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis Nr. 28/1990;

Ursula Konnertz, Hg., Grenzen der Moral. Ansätze feministischer Vernunftkritik, Tübingen 1991;

Herta Nagl-Docekal, Hg., Feministische Philosophie, München 1990;

Elisabeth List & Herlinde Studer, Hg., Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt 1989.