Gewichtsfragen: Joghurt nur noch mit der Gabel
Die Medien, die Politiker, der Blick in den Spiegel: Alle sagen, wir sollen abnehmen. Dabei sollten wir uns eher um die allzu Dünnen sorgen
Anorexia nervosa, Magersucht. Die Betroffenen (meist Mädchen, vermehrt auch Jungen) leiden unter einer Störung ihres Körpergefühls. Sie empfinden sich immer als zu dick.
Bulimie, Ess-Brech-Sucht. Jene, die an diesem Syndrom leiden, sind von panischen Esslüsten heimgesucht - und erbrechen die Nahrung umgehend.
Binge Eating: Binnen kürzester Zeit vertilgen Menschen mit dieser Störung Berge von Nahrung, die für bis zu zwei Tage reichen könnte.
Adipositas, umgangssprachlich: Fettleibigkeit. Betroffen von dieser Störung sind Männer und Frauen, die unkontrolliert Unmengen von Speisen zu sich nehmen. Der Sinn für Sättigung fehlt ihnen.
Body-Mass-Index (BMI) ist ein (umstrittener) Wert zur Bestimmung eines intakten Körpergewichts. Wer bei 1,90 Meter Körperlänge 97 Kilogramm wiegt, gilt demnach absurderweise schon als adipositasgefährdet.
Die Zeichen sind oft nur von Eingeweihten zu entziffern. Kürzlich in einem Restaurant mit italienischen Speisen in Berlins Charlottenburg, traditions- wie neobürgerliche Gäste. Eine Frau in den mittleren Vierzigern, extrem schlank, ja schmal, sitzt mit einer Freundin offenbar zum Abendessen beisammen. Vor ihr auf dem Teller eine beeindruckend riesige Pizza. Die Gute scheint eine schwächliche Blase zu haben, jedenfalls huscht sie nach jedem fünften Bissen kurz auf die Toilette. Oder muss sie die Nase nachpudern, den Lidschatten bekräftigen, war es zu viel des stillen Wassers, das sie in kleinen Schlucken trinkt?
Eine Freundin kennt sich aus, sie weiß die Anzeichen zu deuten, ihr Blick, betont sie, sei nicht böse, aber genau. Selbst ist sie von eher runder Statur, sie selbst nennt sich pummelig, und sagt sie dies, klingt es lapidar, doch auch eine Spur nach einer trotzigen Behauptung. So sagt sie, das Hüsteln nach den Besuchen auf der Damentoilette verrate die dürre Frau am Nebentisch. Die habe gekotzt, die musste das Essen wieder herauswürgen - und jedes Erbrechen sei mit einem mächtigen Schwall Magensäure versehen. Die Lauge wiederum reize die Speise- wie die anatomisch benachbarte Luftröhre, daher der Hustenreiz.
Der Befund stehe fest, wird mir bedeutet, bei der Armen handele sich um einen typischen Fall von Bulimie, von Ess-Kotz-Anfällen. Woher soll einer das wissen, der aufs Essen und dessen Menge eher wenig achtet, dem Fettes kaum noch schmeckt, der mittags nicht isst, weil es dann kein Arbeiten mehr gibt am Nachmittag. Sondern lieber abends zulangt, auf dass der Magen nicht leer in die Nacht muss. Es kann jedenfalls kein Minderheitenproblem sein, diese Essstörung. Dieses, im Wortsinn: absolute Konzentrieren auf die Nahrungszufuhr (wie ihre Abfuhr), diese Leidenschaft für das körperliche Schema in eigener Sache.
In Wahrheit muss es sich um ein epidemisches Phänomen handeln; Spiegel Online berichtete kürzlich über die auf jede Außenwirkung eigentlich bewusst verzichtende "Pro ana"-Bewegung. Von Mädchen ist dort die Rede, die sich bewusst sind, krank zu sein - deren, bitte sehr, von Eltern unangefochtener Lebenssinn aber darin besteht, so mager, so leicht wie irgend möglich zu werden. Am besten, wird in einem Eintrag in einem dieser Foren gebeichtet, so um die 40 Kilogramm. Also Kindergröße, das Gegenteil dessen, was eine normale Ernährung gerade im Laufe der Pubertät bewirkt: einen Körperbau, der sich, genetisch gesehen, dem der Eltern annähert, welchem der beiden auch immer. Eine Figürlichkeit, und nur dies weiß die Wissenschaft, die sich weitgehend den körperlichen Anlagen annähert. Aus einem Mädchen (oder Jungen), dessen Mutter propper aussieht und dessen Vater kräftig ist, wird niemals eine Britney Spears - es sei denn um den Preis buchstäblich kraftraubender Manipulationen.
Die Forschung zum Thema Ernährung steht freilich vor all diesen modernen Erscheinungen der modernen Körperwelt wie die Ochsen vor Gebirgen. Man weiß eine Menge - aber das Wissen ist zugleich begrenzt. Menschen mit krassem Übergewicht oder organisiertem Untergewicht litten unter familiären Störungen; Ernährungsstörungen müssten außerdem als Indiz einer verfehlten Verbraucheraufklärung gesehen werden, weil gerade die Snacknahrung höher kalorisch sei, als man ihren Mengen ansieht. Außerdem fehle es allen Menschen - die Sorge gilt in erster Linie den jungen - an Bewegung, an motorischer Lust, an ausgleichendem Sport zu all dem TV-Konsum, dem sich viel zu viele Männer und Frauen hingegeben. Ein Teil der kulturkritischen Klage - der Autor Paul Nolte hat sich damit passabel bekannt gemacht - geht in die Richtung, gerade die proletarischen Massen, die Unterschichten, verwahrlosten gerade im Hinblick auf ihre Nahrungsaufnahme. Zu viel Fett, allzu krass ihre Neigung, sich Junkfood einzuverleiben, zu wenig Kraftstoff, zu viel Zucker und Weißmehl.
Und das ist ganz genau das, wovon die Forschung nichts wissen will: vom Zusammenhang zwischen einer Ideologie der Fitness, die gerade in Mittelschichtsverhältnissen grassiert, und einer Fantasie von Verachtung für alle, die sich dieser sportiven Zurichtung des Körpers verweigern, ob bewusst oder unbewusst, ist einerlei. Dieser Konnex bleibt in allen Bekundungen zum Thema blind: Niemand weiß genau, ob jene Pummeligen nicht am Ende länger und gesünder leben als jene, die ihr Leben vielfältig auf Schlankheit, Muskularität und Dehnbarkeit der Sehnen orientieren.
Keine einzige Untersuchung widmet sich - vielleicht sogar mit Interviews gefüttert - der Frage, woher der Terror vom Fitsein rührt. Was in den Personen vorgeht, die ihren Joghurt nur mit der Gabel zu essen vermögen, die Wein meiden, weil er Zucker enthält, die als Fleisch nur Geflügel akzeptieren und zum Kaffee nur absolut geschmacksausgelöschte Magermilch zur Abrundung. Jenen, die sich offenkundig füllen, um sich wieder zu entleeren, die mager bleiben müssen, weil sie sich, knochig und unweich durch und durch, immer noch zu teigig fühlen.
Die Zahlen sprechen eine deprimierend eindeutige Sprache. Von Magersucht sind etwa 100.000 Menschen - deutlich überwiegend junge Frauen - betroffen, von der Ess-Brech-Sucht 600.000 und vom sogenannten Binge Eeating (zeitweise maßlose Fresslust) immerhin 2 Prozent der Bevölkerung, also 1,6 Millionen Frauen und Männer. Nicht in Ziffern zu fassen ist die tägliche Propaganda, die in puncto Esskontrolle und -moral auf uns herabsinkt. All die Castingshows, in denen nur strichdünne Mädchen auftreten; all die Heranwachsenden, die eine Lolita sein möchten; all die Medien, von Brigitte über Vogue und Bravo Girl bis zu Mens Health, die den schmächtigen, trainierten, durchkontrollierten Körper als Ideal nahelegen - und entsprechende Trainings- und Diätprogramme ausbreiten.
Selbst die Grünen machen bei diesem unseligen Trend mit. Als sie noch Verbraucherministerin war, schämte sich Renate Künast nicht, im Bunde mit der Industrie ein Programm für bessere, das heißt auf Schlankheit orientierte Richtung aus der Taufe zu heben: Dass die "Plattform für Ernährung und Bewegung" mehr ist als ein Werbegag sehr im Sinne des Zeitgeistes, muss bezweifelt werden. Als ob die wichtigste Sorge nicht die um die Dicken, sondern die um die allzu Dünnen kreisen müsste.
Möglicherweise haben Mädchen (und Jungen) den Eindruck, sie seien nur als Schlanke attraktiv, tauglich als Objekt, in das man sich gern verliebt. Jede Umfrage im Bekanntenkreis - machen Sie selbst die Probe aufs Exempel - sagt nur dies: Die Liebe schert sich nur außerordentlich gering um Pfunde. Im Gegenteil bevorzugen im gewöhnlich heterosexuellen Fall Männer bei Frauen eine gewisse Pfundigkeit, auch wenn sie nicht in Fette gehen soll - und Frauen scheinen Männer am liebsten dann in den Blick zu nehmen, wenn der Blick stimmt, der Gang, die Gestik. Und all dies ist doch, recht besehen, unabhängig von dem, was eine Waage gerade so sagt: Das Körpergewicht, auch dies nur weiß die Forschung, ist dann ein gesundes, wenn eineR sich mit ihm wohlfühlt. Body Mass Index oder wie die Parameter von der stimmigen Kilogrammmasse sonst auch lauten: sie verfehlen ihren Gegenstand notgedrungen immer. Jeder Mensch ist, so banal dies klingt, verschieden.
Vielleicht hängt es auch mit der selbstbesoffenen Art der Mittelschichtskader zusammen. Wo man das gut sehen kann, ist Schottland. Einerseits in Edinburgh, der Hauptstadt dieses Teils vom Vereinigten Königreich. Eine Metropole von feinem bürgerlichem Habitus. Viele Starbucks-Filialen, Galerien, Ökoquartiere, viel Verwaltung, eine Menge Kultur, Touristen noch und noch. Anders das nur eine Stunde entfernte Glasgow. Es wirkt im Vergleich eher rotzig, schmutzig, man erkennt noch die Verwundungen durch die Entindustrialisierung, kein Viertel für die Schicken und Schönen allein, alles mischt sich, mit ersichtlicher Dominanz der proletarischen Einwohnerschaft. Der Unterschied: Während in Glasgow die Dünnen eher bemitleidenswert hungrig aussehen - es sind ja nur wenige -, wirken die ihren Körperspeck nicht versteckenden Menschen in Edinburgh beinah asozial, das Bild der allgemeinen Fitness beschmutzend.
Wir wurden den Eindruck nicht los, als sei es in der ollen Proletenstadt nicht so wichtig, auszusehen wie athletisch geformte Ziegen. Und das muss, allein schon der Zeitersparnis wegen, die es bringt, sich nicht manisch auf den eigenen Körper konzentrieren zu müssen, alles sehr viel gesünder sein.
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