: Gewalttätige Zivilisation
■ Spannende Beiträge in der neuen Ausgabe von „Mittelweg 36“
Es ist zur Zeit mancherorts von Martin Heidegger die Rede. In den anschwellenden Bocksgesängen der konservativen bis neudeutschtümelnden Kulturkritik etwa heideggert es epigonisierend, wohin man blickt. Überraschender und spannender scheint da natürlich, was sich bei Vertretern der Kritischen Theorie im weitesten Sinne tut: Dort ist die Bereitschaft spürbar gestiegen, sich differenzierter auf den Freiburger Fundamental-ontologen einzulassen und ihn so nicht zur Gänze den Neudeutschen zu überlassen.
In ihrem in der aktuellen Ausgabe von Mittelweg 36, der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, abgedruckten Aufsatz „Der öffentliche Raum bei Martin Heidegger und Hannah Arendt“ führt die amerikanische Philosophin Seyla Benhabib Heidegger an den Punkt, an dem es zwischen erhellenden Ansätzen und das Erhellte wieder verstellenden Konzepten zu unterscheiden gilt.
Zwar habe Heidegger in seiner Kategorie des Mitseins menschliche Pluralität als konstitutiv für menschliches Sein beglaubigt; letztlich aber habe er nicht das intersubjektive Mitsein, sondern das je individuelle Sein-zum-Tode bejaht und so Intersubjektivität auf ein Form unechter Existenz verkürzt. An diesem Punkt – der, so läßt sich anmerken, bei den Neudeutschen wiederkehrt als Affimierung der Figur des großen einzelnen und einer Verächtlichmachung des öffentlichen Diskurses – habe sich die Heidegger-Schülerin Hannah Arendt von ihrem Lehrer gelöst. In der Folge des Aufsatzes liest nun Benhabib Hannah Arendts Totalitarismustheorie mit interessanten Implikationen von diesem Punkt aus.
In einem weiteren Beitrag der aktuellen Ausgabe von Mittelweg 36 widmet sich die Dramaturgin am Hamburger Schauspielhaus Stefanie Carp literardokumentarischen Aufarbeitungen eines der zentralen Mythen des Zweiten Weltkriegs, der Schlacht um Stalingrad. Walter Kempowskis Echolot, die 1993 erschienene umfängliche Kollage von Originalzitaten rund um Stalingrad, ist für sie allzu harmlos und beliebig: „Kempowski hat es geschafft, daß auf seinen 3.000 Seiten ... nichts Verstörendes zur Sprache kommt.“ Dagegen favorisiert Carp Alexander Kluges Schlachtbeschreibung aus den 60er Jahren. Ihr Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem bald erscheinenden Band Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944.
Der Hauptteil der aktuellen Ausgabe sammelt Vorträge der vom Institut ausgerichteten Tagung „Zivilisationstheorien und Destruktivitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts“. Was man verliert, wenn man den sicherlich unscharfen Begriff Zivilisation aufgibt, zeigt der Vortrag Jan Philipp Reemtsmas. Er unterscheidet zwischen einer vorzivilisatorischen Gewalt einerseits, die im Augenblick des Zusammenbruchs staatlicher Institutionen ausbreche – als Beispiele werden Ruanda und das ehemalige Jugoslawien genannt –, und einer Zivilisation andererseits, die selbst Gewalt geworden ist. Für diese zweite Form, eine Gewalt „der Disziplinierten, der Auftragsverhältnisse, der geregelten Durchführung“, stehen Auschwitz, der Gulag, Folterungen in Militärdiktaturen.
Gerade in dem Jahr, in dem sich die Befreiung vom Nationalsozialismus zum 50. Mal jährt, sollte diese Einsicht festgehalten werden: Auschwitz war kein „Rückfall in die Barbarei“, in vorzivilisierte Zeiten also, sondern Teil einer funktionierenden Zivilisation, die im Ganzen und auf höchst effektive Weise gewalttätig geworden war.
Dirk Knipphals
Zu beziehen über: Extra-Verlag, Langgasse 24, 65183 Wiesbaden,
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