Gewaltopfer im Irak: Verfolgt vom Horror des Erlebten
Mehr als ein Drittel aller Iraker leiden psychisch an den Folgen der extremen Gewalt - Entführungen, brutale Morde und amerikanische Luftangriffe. Hilfe für sie gibt es so gut wie keine.
INGA ROGG taz Es war ein Tag wie jeder andere. Der Krankenpfleger Mohammed Jebar Muarrab hatte Spätschicht, und wie immer nahm der Schiit aus Sadr City den Bus zum Krankenhaus. In Gedanken malte er sich bereits den Feierabend aus, dachte an seine Frau, als ihm plötzlich jemand eine Pistole an den Kopf hielt. Dann ging alles ganz schnell. Sieben Männer zückten ihre Waffen, kaperten den Bus und dirigierten den Fahrer zu einem Haus am Stadtrand von Bagdad.
Dort wurden der 28-Jährige und drei andere Entführungsopfer, alle Schiiten, bereits von einem Ägypter, einem Syrer und zwei Irakern erwartet. Sie sperrten die Verschleppten in einen fensterlosen Raum. Was dann geschah, hat sich wie ein Brandmal unauslöschlich in die Erinnerung des Krankenpflegers eingebrannt. "In einem Nebenzimmer warfen sie den Ersten zu Boden und schrien mehrmals laut ,Gott ist groß'", sagt Muarrab. "Dann nahm der Ägypter den scharfen Blechdeckel eines Kanisters für Speiseöl und fing an, ihm den Kopf abzuschneiden." Als Muarrab in Ohnmacht fiel, schlugen sie ihn und bespritzten ihn mit kaltem Wasser, bis er wieder zu sich kam. Die Mörder wollten, dass er genau zusieht. "Das ist die Rache für Barzan", habe einer der Iraker gebrüllt. Barzan Ibrahim Tikriti, ein Halbbruder von Saddam Hussein und ehemaliger Geheimdienstchef, war vier Tage zuvor, am 15. Januar 2007, wegen der Beteiligung an einem Massaker an Schiiten hingerichtet worden. Dabei trennte es Tikriti den Kopf ab, weil der Henker die Länge des Strangs falsch berechnet hatte.
"Dann holten sie den Nächsten", sagt Muarrab. "Der ganze Boden voller Blut." Wieder das gleiche barbarische Ritual. "Als der Ägypter fertig war, kickte er den Kopf einfach über den Boden." Muarrab sollte als Letzter an der Reihe sein. Morgens um drei, zur Stunde, als Tikriti hingerichtet wurde, sei er dran, hätten die Mörder gedroht. Doch wie durch ein Wunder hat er überlebt. Hinter der Tür hörte er am nächsten Morgen einen lauten Streit, dann wurde er mit verbundenen Augen in einen Kofferraum gesperrt und auf einem freien Feld ausgesetzt.
Heute ist Muarrab ein gebrochener Mann. Albträume rauben ihm den Schlaf, aus Angst vor einer erneuten Entführung wagt er sich kaum noch aus dem Haus. Selbst alten Freunden geht er aus dem Weg. Posttraumatische Belastungsstörung nennt man die Symptome. Laut einer Studie des irakischen Gesundheitsministeriums und der UN-Weltgesundheitsorganisation leiden 35 Prozent der Iraker an psychischen Erkrankungen infolge der Gewalt.
Im Krankenhaus Ibn Ruschd im Zentrum von Bagdad versucht der Psychiater Schaalan J. Rhema den Kranken zu helfen. Von den ehemals vierzehn Ärzten haben zehn das Land verlassen oder wurden ermordet. "Zu viert behandeln wir monatlich 10.000 Patienten ambulant", sagt Rhema. Für 74 Schwerkranke bietet das Spital stationäre Behandlung. Die Entführungen, Bombenanschläge, brutalen Morde, aber auch die US-Luftangriffe oder die Erschießung von unschuldigen Zivilisten durch amerikanische Soldaten hätten zu einem ständigen Stresszustand geführt, sagt Rhema. "Die meisten Patienten, die zu uns kommen, leiden an akuten Angstsymptomen oder Depressionen."
Kürzlich ist Rhema von einer Fortbildung in Amerika zurückgekehrt. Von den Bedingungen seiner Kollegen dort kann er nur träumen. Neben dem Ibn Ruschd hat das ganze Land nur eine einzige weitere Psychiatrie, ebenfalls in Bagdad, Psychotherapeuten gibt es gar keine. "Der Irak hat so viele Kriege erlebt, dass die meisten Menschen eine hohe Anpassungsfähigkeit entwickelt haben", sagt Rhema. Zudem helfen der Glaube und der enge Familienzusammenhalt den meisten Patienten, schnell wieder auf die Beine zu kommen.
Für diejenigen, die wie Muarrab über Jahre am Horror des Erlebten leiden, kann Rhema nicht mehr tun als Medikamente verschreiben. Es dauert jedoch oft Monate, bis das Krankenhaus die Medikamente zur Behandlung der Patienten vom Gesundheitsministerium bewilligt bekommt. Obwohl der Irak dank dem hohen Ölpreis in Geld schwimmt, kriegt er für die teuren Psychopharmaka oft keine Bewilligung.
Muarrab hat mehrere Ärzte aufgesucht. Jeder verschrieb ein anderes Medikament, geholfen hat es nicht. Ruhig und äußerlich gefasst sitzt der Krankenpfleger im kleinen Wohnzimmer des elterlichen Hauses. Seine Krankheit belastet mittlerweile die ganze Familie. "Manchmal redet er tagelang kein Wort mit uns, an anderen Tagen rastet er völlig grundlos aus", sagt seine Mutter, Umm Bassam. Die Eltern und Geschwister wissen nicht mehr ein noch aus, offen sprechen sie darüber, ihn fortzuschicken. "Manchmal habe ich das Gefühl, das ist nicht mein Sohn", sagt die Mutter. "Wir wissen einfach nicht mehr, was wir tun sollen."
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