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Gewaltkriminalität in VenezuelaDer Tod bekommt ein Gesicht

Eine ehemalige Schönheitskönigin und ihr Mann werden vor den Augen ihrer Tochter getötet. Venezuela hat eine der höchsten Mordraten der Welt.

Monica Spears, 29. Die ehemalige Miss Venezuela wurde in ihrem Auto erschossen. Bild: ap

BERLIN taz | Der gewaltsame Tod einer ehemaligen Schönheitskönigin hat in Venezuela die Debatte über den Umgang mit der alltäglichen Gewalt neu angeheizt.

In der Nacht zum Dienstag war die 29-jährige Monica Spear, Miss Venezuela von 2004 und erfolgreiche Serienschauspielerin, mit ihrem britischen Ehemann und ihrer fünfjährigen Tochter auf der Autobahn unterwegs. 250 Kilometer von der Hauptstadt Caracas entfernt fuhren sie in ein Schlagloch, ein Reifen platzte. Der Fahrer des herbeigerufenen Abschleppwagens warnte, man müsse schnell machen, die Gegend sei gefährlich.

Gerade, als das Auto auf dem Lastwagen platziert war, näherten sich fünf Bewaffnete. Der Lastwagenfahrer und sein Assistent rannten davon, Spear und ihre Familie verschanzten sich im Auto und verriegelten die Türen. Daraufhin wurde der Wagen unter Feuer genommen, die beiden Erwachsenen starben, die Fünfjährige wurde am Bein verletzt und überlebte.

Es ist der prominenteste Todesfall in Venezuela seit dem Tod des ehemaligen Präsidenten Hugo Chávez – doch es ist eigentlich nur einer unter sehr vielen. 24.763 Tote durch Gewaltverbrechen hat der unabhängige „Observatorio de Violencia en Venezuela“ für das vergangene Jahr gezählt – offizielle Statistiken gibt es schon lange nicht mehr. Mit 79 gewaltsamen Todesfällen pro 100.000 EinwohnerInnen hat Venezuela eine der höchsten Mordraten der Welt (Deutschland: 0,8).

Ermittlungen bei Prominenz, Straflosigkeit bei all den anderen

Die Regierung hat im Fall der getöteten Monica Spear umfangreiche Ermittlungen eingeleitet. Fünf Verdächtige, darunter zwei Minderjährige, sind bereits festgenommen worden. Drei Erwachsene seien von den BewohnerInnen einer nahe dem Tatort gelegenen Ortschaft der Polizei übergeben worden, berichten lokale Medien. Über 90 Prozent der Täter in Venezuela gehen allerdings straflos aus, Ermittlungen werden gar nicht erst eingeleitet oder führen nicht zum Erfolg.

Die hohe Kriminalität im Land war in den letzten Jahren beständiges Wahlkampfthema der konservativen Opposition gegen die linke Regierung des Hugo Chávez und seines Nachfolgers Nicolás Maduro. Während Chávez das Problem trotz drastisch steigender Zahlen (1998: 4.450 Morde) jahrelang leugnete, kündigte Maduro an, das Thema ernstzunehmen, und mobilisierte Mitte 2013 das Militär, das seitdem auf den Straßen patrouilliert. Auch der „Observatorio“ geht davon aus, dass die Todeszahlen sonst noch höher liegen würden.

Die Regierung ihrerseits sprach noch Ende vergangenen Jahres von angeblichen Rückgängen und großen Erfolgen - konnte dafür allerdings keine glaubwürdigen Zahlen vorlegen. Für Donnerstag hat Präsident Maduro jetzt eine Versammlung einberufen, um über das Thema zu debattieren. Oppositionsführer Henrique Capriles rief Maduro per Twitter auf, die politischen Differenzen beiseite zu legen und gemeinsam eine Lösung zu suchen.

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13 Kommentare

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  • Venezuela kennt seit dem Eindringen der Spanier im 16. Jh. fast immer nur extremen Kolonialismus, Sklaverei, Unterdrückung und Diktaturen mit den entsprechenden Wirtschaftsformen extremer Bereicherung von einer Minderheit. Das MUSS Spuren in der Mentalität der Venezuelaner hinterlassen haben. Die Menschen dort (wie überhaupt im weltweiten Profitsystem) leiden weniger an materieller Armut als am quasi völligen Fehlen von sozialer Bindung und Kooperation, die die dortige Kultur aufgrund der genannten historischen Fakten nicht entwickeln konnte. Dieses Problem kann auch Umverteilung à la Chavez nicht lösen. Es kann nur überwunden werden, wenn die Menschen gezwungen sind, GEMEINSAM ihre allen gemeinsame Lebensnot in der jeweils konkreten Natur, die sie umgibt, zu bewältigen. Nur aus solcher NOTWENDIGER (und BEWUSSTER) Kooperation kann das allgemeine Gegeneinander überwunden werden. Dann wird man seine Mitmenschen auch nicht mehr für ein paar Dollar umbringen. Raub wie Raubmord sind nur primitive Formen der allgemeinen Profit-Unkultur.

  • Wo liegen die Ursachen für den unbestreitbar deutlichen Anstieg der Gewaltkriminalität in Venezuela in den letzten 10-20 Jahren?

     

    Die Ausbreitung von Gangs und anderer Formen organisierter Kriminalität, die Etablierung zahlloser paramilitärischer Gruppen und (auch von der PSUV initiierter) Bürgermilizen, eine untätige und korrupte Justiz und eine ebenso untätige wie korrupte Polizei, die für einen erheblichen Teil der Morde selbst verantwortlich zeichnet – das dürften in meinen Augen die wesentlichen Faktoren sein. Amnesty international betont zudem den Aspekt einer fast vollständig fehlenden staatlichen Waffen- und Munitionskontrolle.

     

    Ein wesentlicher Motor dieser Gewalteskalation ist dabei sicherlich der Kampf um die Kontrolle des Drogengeschäfts: Venezuela hat sich zu einem der wichtigsten Drogenkorridore der Region entwickelt. Dementsprechend kämpfen Polizeieinheiten, Gangs, mafiöse Vereinigungen, Paramilitärs besonders in den Straßen der größeren Städte um die jeweilige Gebietshoheit. Sogar das venezoelanische Militär mischt im Drogenhandel mit. Eine erschöpfende Erklärung für die immer stärker ausufernde Gewalt ist dies allein aber sicherlich auch nicht.

    • @Der Sizilianer:

      Im Sommer 2012 hatte Chávez unter Berufung auf eine Studie der UN öffentlich eingestanden, dass “unsere Nation mit die weltweit höchste Rate von Tötungsdelikten aufweist” und weitere Regierungsprogramme zur Bekämpfung der Armut als Problemlösungsstrategie angekündigt – zugleich aber auch erklärt:

       

      “Venezuela ist ein Beispiel dafür, dass diese sozialpolitischen Maßnahmen alleine nicht ausreichen, um die kriminelle Gewalt im Land zu reduzieren”.

       

      http://latina-press.com/news/127799-venezuela-chavez-kuendigt-programm-zur-bekaempfung-der-kriminalitaet-an/

       

      Trotz ihrer unbestreitbaren Erfolge - z. B. bei der Armutsbekämpfung, der Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus oder auf dem Gebiet der medizinischen Grund- und Allgemeinversorgung - muss man also denke ich ganz klar konstatieren: Die PSUV-Regierung hat bei der Bekämpfung der Gewaltkriminalität bislang eklatant versagt.

  • W
    Wolfgang

    ZU @ "Brockmann" und Co. =

     

    Sie sind DURCHGEKNALLT !

  • Extreme Gewalt gab es in Venezuela schon vor 30 Jahren.

     

    Einer meiner Schulkameraden ging als Austauschschüler für ein Jahr nach Venezuela. Anschließend berichtete er vom Maschinengewehr im Schlafzimmer seiner Gast-Eltern, und von seiner ständigen Angst auf dem Schulweg ausgeraubt oder entführt zu werden.

  • Ich konnte nie die Begeisterung für den Putsch-Obristen und seinen "Chavismo" verstehen. Am Ende war das wieder nur eine kleine Machtclique, die sich am ungeheuren Reichtum dieses schönen Landes bedient und die kleinen Leute mit Brosamen bei Laune gehalten hat.

    • @Oma Kruse:

      Ich sehe das alles auch nicht unkritisch, aber diese Aussage kann nicht unwidersprochen bleiben:

      Die sozialistische Regierung von Venezuela hat den größten Rückgang von Armut in Lateinamerika erzielt. Dies geht aus dem neuen Sozialbericht der Wirtschaftskommission der UNO für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) hervor, der die Regierung ausdrücklich für ihren politischen Kampf gegen Armut lobte. Demnach ging die Armutsrate in dem südamerikanischen Land zwischen 2011 und 2012 von 29,5Prozent um 5,6 Prozentpunkte auf 23,9 Prozent zurück.

  • AV
    Aufklärung vs. Kapital

    Zu @ "TOMMY"

     

    Sie sind ebenso durchgeknallt wie die kapitalbourgeoise Konrad Adenauer-Stiftung und der BND der deutschen Finanz- und Monopolbourgeoisie.

  • W
    Wolfgang

    Umwälzung und qualifizierte Arbeit der Werktätigen ist notwendig!

     

    Nicht Rohstoff- und Hoflieferant für China und EU-Europa, sondern hochwertige Produkte aus eigenständiger Produktion wäre die Zukunftsaufgabe!

     

    Die Erdölrente für Sozialprogramme bietet keinen Ersatz für die notw. differenzierte berufliche Qualifizierung der Jugend und Erwachsenen - und für eine zukunftsorientierte (sozial-ökonomisch-ökologische) Ausrichtung und Entwicklung!

     

    Nach Regierungsangaben wurden 2012 in Venezuela 16.072 Menschen ermordet. Die Mordrate beträgt 45,1 pro 100.000 Einwohner; in den USA liegt sie bei 4,8, in Deutschland bei 0,8.

     

    Im Zusammenhang mit der Straßenkriminalität kommt es in Caracas zu den meisten Morden. Ursachen sind - trotz der Sozialprogramme - die enorme soziale Ungleichheit. 32 Prozent der Bevölkerung leben unter der nationalen Armutsgrenze.

     

    Weder Gelegenheitskriminelle noch das organisierte Verbrechen werden von Polizei und Justiz in systematischer Weise belangt. Teils treten Polizisten als Komplizen auf.

     

    Vgl. GIGA-Focus Nr. 3, 2013: Die "Bolivarische Revolution" nach Hugo Chávez.

  • B
    Brockmann

    Der Sozialismus macht die Menschen agressiv.

  • Das sind die Früchte des Sozialismus.

  • D
    David

    FYI: "Observatorio de Violencia en Venezuela" ist eine NGO, aber nicht unabhängig. Der Leiter der Organisation sympathisiert mit dem Parteibündnis MUD und hat das Regierungsprogramm von Capriles mitgeschrieben.

     

    Einige Jahre wurden keine offiziellen Statistiken veröffentlicht, aber derzeit gibt es schon offizielle Zahlen. Die Rate liegt laut Regierung bei 39 Morde pro 100.000 Einwohner. Die Zahlen sind wahrscheinlich etwas geschönt, aber das sind Regierungszahlen immer (wahrscheinlich auch die Regierungsdaten von 1998, die im Artikel erwähnt werden).

     

    Die Kriminalität steigt schon seit 25 Jahren kontinuierlich. Egal wer an der Macht war.

  • L
    Locke

    Grauenvoll!

    Der Tochter kann man nur Gottes Segen wünschen, dass sie das jemals verkraften wird!