Getöteter Präfekt auf Korsika: Wende in Mordprozess
An der Ermordung des französischen Präfekten Erignac auf Korsika 1998 sollen neun Personen beteiligt gewesen sein, sagt ein Polizist im Zeugenstand.
"Sie stehen unter Einfluss", klagt der Angeklagte seine Richter im Gerichtssaal an: "Sie wollen mich im Namen der Staatsraison verurteilen." Mahnend fügt Yvan Colonna hinzu: "Eines Tages werden Sie sich selbst rechtfertigen müssen." Nach der kurzen Ansprache, die im melodischen Französisch der Korsen vorgetragen wird, setzt sich der 48-jährige Schäfer wieder auf die Holzbank hinter dem Sicherheitsglas in dem Pariser Sonderschwurgericht. Es soll darüber befinden, ob er am Mord an dem französischen Präfekten Claude Erignac in Ajaccio im Februar 1998 beteiligt war oder nicht. Colonna, der 2007 in erster Instanz bereits zu "lebenslänglich" verurteilt worden ist, kreuzt die durchtrainierten bleichen Arme, und lässt seine Anwälte sprechen. Die sehen seit Jahren "Manipulationen"; "boshafte Absichten" und "einseitige Ermittlungen" gegen ihren Mandanten. Aber an diesem Montag steht das Gericht erstmals vor einer komplett neuen Situation. Sie könnte den vierten Prozess wegen des Präfektenmordes zum Platzen bringen.
Die Wende kam am Freitagabend. Ausgerechnet ein Zeuge der Anklage lieferte die neuen Informationen, die die Verteidigung als Entlastung versteht. Der Polizist Didier Vinolas sagte vor dem Sonderschwurgericht: "Es ist möglich, dass zwei Männer, die an dem Präfektenmord beteiligt waren, frei herumlaufen." Vinolas will diese Information schon in den späten 90er-Jahren erhalten haben. Aus "zuverlässiger Quelle". Er will die Information umgehend an die Mordermittler weitergegeben haben. In seiner früheren Zeugenaussage in Colonnas erstem Prozess 2007 sagte er davon nichts.
Vinolas kennt sowohl die Familie des Mordopfers Erignac als auch die Familie des Angeklagten Colonna. Den Erignacs steht er näher. Als Generalsekretär des Präfekten war er dessen engster Mitarbeiter in Ajaccio. Nach dem Präfektenmord auf offener Straße begleitete er die Witwe ins Leichenschauhaus. Warum Vinolas so lange mit seiner Enthüllung wartete, ist ein Rätsel. Dass er jetzt auspackt, begründet Vinola damit, er wolle bei der Wahrheitsfindung helfen.
Im dem Prozess, der eigentlich am 13. März zu Ende gehen sollte, schlug die Zeugenaussage wie eine Bombe ein. Ein Verteidiger verlangt jetzt die Freilassung seines Mandanten. Ein anderer fordert am Montag Zusatzermittlungen. Alle Verteidiger kritisieren, dass sie nicht von der Existenz der beiden nie zuvor genannten Tatverdächtigen erfahren haben. Sie sprechen von einer "Schande" der Justiz.
Die Zeugenaussage wirft auch ein Schlaglicht auf die Pannen bei den Ermittlungen über den Präfektenmord. Ein solches Verbrechen war nie zuvor in der V. Republik geschehen. Schockiert versprachen 1998 die obersten Repräsentanten der Französischen Republik, dass sie für klare, schnelle und eindeutige Aufklärung sorgen wollten. Doch von Anfang komplizierte die Konkurrenz zwischen verschiedenen Polizeieinheiten auf Korsika die Aufklärung.
Nach den ersten Verhaftungen im Mordfall Erignac legte sich die Justiz in Paris auf eine Gruppe von sieben Tatbeteiligten fest. Darunter der Schäfer Yvan Colonna. Vier von sechs inhaftierten Tatverdächtigen hatten ihn als Komplizen genannt. Auch mehrere Lebensgefährtinnen der Inhaftierten beschuldigten ihn. Colonna tauchte ab. Vier Jahre gelang es ihm, sämtlichen Polizeikräften der Insel zu entkommen. Erst als Nicolas Sarkozy, damals als Innenminister, eine Pressekonferenz zum Thema der inneren Sicherheit auf der Insel gab, fasste die Polizei den Schäfer in einer Hütte auf den korsischen Bergen.
Colonna hat stets seine Unschuld beteuert. Die inzwischen verurteilten sechs Mitglieder des Mordkommandos und ihre Frauen haben ihre Anschuldigungen gegen ihn zurückgezogen. Sie seien von der Polizei unter Druck gesetzt worden. Sollte die Tätergruppe jetzt von sieben auf neun anwachsen, bekommen die Ermittlungen über den Präfektenmord eine neue Dimension.
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