Gesellschaft: Die Untreuen
Kontext hat Beamt:innen aus dem Südwesten mit einer AfD-Mitgliedschaft recherchiert. Polizisten sind besonders stark vertreten. Das wirft die Frage auf: Können Menschen der freiheitlich demokratischen Grundordnung und gleichzeitig einer rechtsextremen Partei dienen?
Von Timo Büchner
Plötzlich ist Schluss. Seit 2019 war Kai Rosenstock im Hechinger Gemeinderat aktiv, erst 2024 wurde der AfD-Lokalpolitiker in den Zollernalb-Kreistag gewählt. Im Juni 2025 die Überraschung: Er gibt seinen Rücktritt bekannt – und verlässt sogar die Partei. Warum?
Der Polizeibeamte beklagt in einem Schreiben, das Kontext vorliegt, das „Spannungsverhältnis zwischen Beamtentum und dem politischen Engagement bei der größten Oppositionspartei Deutschlands“. Der „Druck auf meine Person“ sei „derart hoch, dass mir ein zukünftiges freies politisches Wirken nicht mehr möglich ist, ohne mit massiven persönlichen Folgen rechnen zu müssen“.
Die Treuepflicht
Das Spannungsverhältnis, das Rosenstock beschreibt, hat einen Namen: Treuepflicht. Hierzu sprach das Bundesverfassungsgericht 1975 ein Grundsatzurteil, in dem es heißt, Beamt:innen seien mit der Treuepflicht aufgerufen, Staat und Verfassung „zu bejahen und dies nicht bloß verbal“. Weiter: „Die politische Treuepflicht fordert mehr als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung; sie fordert vom Beamten insbesondere, daß [sic!] er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren.“
Unter den Beamt:innen haben Polizeibeamt:innen eine besondere Verantwortung. Der Journalist Aiko Kempen schreibt in seinem Buch „Auf dem rechten Weg? Rassisten und Neonazis in der deutschen Polizei“ (2021): „Als Vertreterin der staatlichen Gewalt ist die Polizei die einzige Berufsgruppe, die mit Schusswaffen, Tasern oder Schlagstöcken ausgestattet durch Innenstädte und Wohnviertel streifen darf. Sie ist die einzige Instanz, die in Deutschland grundsätzlich dazu legitimiert ist, Gewalt gegen Menschen auszuüben.“ Nicht zuletzt, weil Polizeibeamt:innen die Möglichkeit haben, ihre Macht und ihre Privilegien zu missbrauchen, muss der Anspruch eines Rechtsstaats sein, dass alle Polizeibeamt:innen auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung stehen.
Rosenstock hat die AfD und die Kommunalparlamente verlassen. Aber: Wie viele Beamt:innen – insbesondere innerhalb der Polizei – bis heute in der AfD Baden-Württemberg sind, ist unklar. Daher hat Kontext die Berufe Hunderter AfD-Politiker:innen aus dem Südwesten recherchiert. Von AfD-Politiker:innen, die bei der Kommunalwahl 2024 in den Gemeinderat oder den Kreistag gewählt wurden. Von AfD-Politiker:innen, die aktuell im Bundestag oder im Stuttgarter Landtag sitzen. Und von AfD-Kandidat:innen, die bei der Landtagswahl 2026 in Baden-Württemberg antreten werden. Systematisch hat Kontext die Webseiten des Bundes- und Landtages, die Portale der Land- und Stadtkreise, Berichte in der Lokalpresse und den sozialen Medien nach Berufsangaben durchsucht.
Das Ergebnis der Recherche: Für die AfD sitzen allerlei Beamt:innen in den Parlamenten. Da ist Sven Wenz, ein Justizvollzugsbeamter, der 2024 in den Kreistag des Landkreises Karlsruhe gewählt wurde. Da ist Ralf Barwig, laut seiner eigenen Homepage ist er „Landesbeamter“ und war technischer Lehrer an der Gewerbeschule Mosbach. Seit 2019 sitzt er im Kreistag des Neckar-Odenwald-Kreises und im Gemeinderat Seckach. Da sind ehemalige Polizeibeamt:innen wie Wolfgang Koch (Kreistag Lörrach) und Götz Pflüger (Kreistag Ludwigsburg), oder Maximilian Löbel (Kreistag Rems-Murr-Kreis) und Michael Weller (Kreistag Göppingen), die als aktive Polizeibeamte in den Wahlkampf gegangen sind.
Das schärfste Schwert
Mit Chris Hegel, 2024 in den Kreistag des Ostalbkreises gewählt, steht bei der Landtagswahl 2026 ein aktiver Polizeibeamter auf Listenplatz 17. Im Mai 2025 schrieb die AfD Ostalb in den sozialen Netzwerken, Hegel habe die Ortsgruppe Schwäbisch Gmünd besucht, um über Innere Sicherheit und den Verfassungsschutz zu referieren. Ein Foto, das die Partei im Netz verbreitete, zeigt ihn mit einem Mikrofon, im Hintergrund ist ein Ausschnitt seiner Präsentation zu sehen. Auf der Folie heißt es, das Bundesamt für Verfassungsschutz habe mit der Hochstufung, die AfD sei „gesichert rechtsextremistisch“, das Ziel, „den Menschen Angst zu machen“ und „Mitglieder zum Austritt zu bewegen“.
Beamt:innen haben Pflichten. Nicht nur die Treuepflicht, sondern auch die Neutralitätspflicht mit einem Mäßigungsgebot. Extreme Äußerungen im Beruflichen wie im Privaten sind untersagt. Verstoßen Beamt:innen gegen ihre Pflichten, droht ein Disziplinarverfahren mit Sanktionen. Die Sanktionen beginnen mit einer Verwarnung und können mit dem Entzug des Beamtenstatus enden. Der Entzug ist das schärfste Schwert des Disziplinarrechts. Entsprechend hoch sind die rechtlichen Hürden.
Dieses Schwert wurde im Fall Thomas Seitz gezogen: Der ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete und Staatsanwalt aus Freiburg/Breisgau hatte den früheren US-Präsidenten Barack Obama als „Quoten-[N-Wort]“ und Geflüchtete als „Invasoren“ bezeichnet. Da Seitz gegen das Mäßigungsgebot verstieß, sah das baden-württembergische Justizministerium das Vertrauen „nachhaltig gestört und unwiederbringlich verloren“. Das Richterdienstgericht am Landgericht Karlsruhe entschied 2018, Seitz aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen. 2021 bestätigte der Dienstgerichtshof für Richter am Oberlandesgericht Stuttgart das Urteil.
Der Fall Thomas Seitz verdeutlicht: Nicht die bloße Parteimitgliedschaft, sondern das individuelle Verhalten entscheidet, ob ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird. Die Mitgliedschaft in einer legalen Partei darf keine negativen Konsequenzen haben. Auch nicht, wenn der Verfassungsschutz die Partei beobachtet. Erst, wenn die Partei verboten ist, reicht bereits die Mitgliedschaft aus, um Beamt:innen in einem Disziplinarverfahren den Beamtenstatus zu entziehen.
Die Pläne der AfD
Im Sommer 2020 ist das Buch „Warum Polizisten AfD wählen“ im rechtsextremen Gerhard Hess Verlag erschienen. Gleich mehrere Autoren stammen aus Baden-Württemberg. Einer davon ist Martin Hess, der behauptet, die AfD sei „der politische Freund unserer Polizei“. Fast 30 Jahre lang ist er in der Polizei tätig gewesen. Hess war Polizeihauptkommissar und – ab 2014 – Dozent an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg. 2016 wurde er im Wahlkreis Ludwigsburg in den Bundestag gewählt; dort ist er im Ausschuss für Inneres und Heimat vertreten. In dem Buch schreibt Hess über „Antifa“ und „Linksextremisten“, über „Clankriminalität“ und „Migrantengewalt“. Über die Gefahr militanter Neonazis und Rassist:innen? Schreibt er nicht.
Hess ist ein vehementer Verteidiger des Begriffs „Remigration“. Einst hatte die rechtsextreme Identitäre Bewegung das Wort geprägt. „Remigration“ erlangte Bekanntheit, als „Correctiv“ im Januar 2024 ein Geheimtreffen der extremen Rechten in Potsdam offenlegte. Im Rahmen des Treffens referierte Martin Sellner, Gründer und Kopf der Identitären in Österreich, über sein Projekt einer millionenfachen „Remigration“. Der Plan: Migrant:innen aus Deutschland verdrängen und vertreiben. Auch Migrant:innen mit deutscher Staatsbürgerschaft. Die Empörung war groß, Millionen Menschen gingen auf die Straße. Aber Hess nutzt das Wort, immer und immer wieder. So posaunte er im Juni 2025 in einer Bundestagsrede: „Remigration schafft Sicherheit, Remigration rettet Leben!“ Mit dem Zitat „Remigration statt Migration, das ist der einzig richtige Weg“ taucht Hess im AfD-Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf. Das Bizarre: Auf seinem Bundestagsprofil steht, er habe nach einem Ausscheiden aus dem Bundestag ein Rückkehrrecht in den Polizeidienst.
Neben Hess ist Jörg Finkler im Buch „Warum Polizisten AfD wählen“ vertreten. Er schreibt, die Partei sei für Polizeibeamt:innen eine „vielleicht längst überfällige Alternative.“ Seit 2019 ist Finkler im Gemeinderat der Stadt Mannheim, seit 2021 leitet er die AfD-Fraktion. Mitte 2022 gab er bekannt, die Partei „vor einigen Monaten“ verlassen zu haben. Ob berufliche Gründe in seiner Entscheidung eine Rolle spielten, ist unklar.
Seitdem ist er wohl nicht mehr in die AfD eingetreten. Aber: Die Fraktion, die Zuschüsse für das Antidiskriminierungsbüro und das Eine-Welt-Forum streichen will, leitet er bis heute. In seiner Rede zum Haushalt 2025/26 forderte er, mehr Polizeistellen zu schaffen. „Überall lungern Obdachlose, Junkies und andere zwielichtige Gestalten herum“, soll er laut Redemanuskript über die Innenstadt geäußert haben. Aktiver Polizeibeamter ist Finkler nicht mehr. Auf dem Stimmzettel zur Kommunalwahl 2024 stand, er sei „Polizeibeamter a.D.“, und das Polizeipräsidium Mannheim bestätigte Kontext gegenüber, er sei „nicht mehr im Polizeidienst tätig“.
Gewerkschaft mit klarer Haltung
Tobias Singelnstein ist Rechtswissenschaftler und Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. In den Reihen der AfD ist der renommierte Wissenschaftler regelrecht verhasst. Martin Hess behauptete einst, Singelnstein betreibe „Propaganda“ und „Pseudowissenschaft“. Der „linke Forscher“ versuche, die Polizei „mit fragwürdigen Studien in Misskredit zu bringen“. Mit Benjamin Derin veröffentlichte Singelnstein das Buch „Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt“ (2022). Im Buch warnen die Autoren, das Einsickern rechtsextremer Haltungen in die Polizei sei bedrohlich. Wichtig sei eine Abgrenzung der Polizei zur extremen Rechten.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP), mit über 200.000 Mitgliedern die größte Polizeigewerkschaft in Deutschland, hat seit Jahren eine klare Haltung. Im Frühjahr 2021 veröffentlichte sie ein Positionspapier mit dem Titel „Demokratie schützen“. Darin betont sie, die AfD sei „eine im Kern rassistische, nationalistische, menschenverachtende, demokratie- und gewerkschaftsfeindliche Partei“. Ihr Ziel sei es, „die Demokratie abzuschaffen“. Daher sei eine Mitgliedschaft in der AfD mit einer Mitgliedschaft in der GdP „nicht vereinbar“. Auf Kontext-Anfrage bekräftigt Guntram Lottmann, Vorsitzender der GdP Baden-Württemberg, die Aussagen und Beschlüsse des Positionspapiers.
Das Disziplinarrecht ist das Instrument, um rechtsextreme Umtriebe unter Beamt:innen einzudämmen. Aber reichen die Vorschriften aus? Im Gespräch mit Kontext erklärt Singelnstein: „Es ist keine Frage der rechtlichen Vorschriften. Die nötigen Vorschriften existieren. Es ist eine Frage der praktischen Umsetzung: Wie genau wird ermittelt? Welche Konsequenzen werden aus den Ermittlungen gezogen?“ Lange Zeit seien rechtsextreme Einstellungen im Disziplinarrecht mit großer Zurückhaltung behandelt worden, ergänzt der Wissenschaftler.
Das könnte eine Hochstufung durch den Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ ändern. Singelnstein vermutet: „Die Hochstufung würde keinen Automatismus bedeuten, aber den Maßstab verschieben. Eine Mitgliedschaft wäre ein stärkeres Indiz für verfassungsfeindliche Bestrebungen. Das würde bedeuten, dass genauer hingeschaut werden müsste.“
Dank einer Vielzahl von Spenden konnte Kontext das Projekt „Recherche gegen Rechts“ ins Leben rufen. Bis ins Frühjahr 2026 werden im Wochentakt Veröffentlichungen erfolgen, die rechtsextremen Strukturen in Baden-Württemberg nachgehen.
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