Gesellschaft: Danach ist man immer schlauer
Nach Anschlägen behaupten populistische Politiker:innen und Medien gerne, die Polizei hätte die Tat verhindern können. Die dafür nötige Überwachung sehen jedoch selbst Sicherheitsbehörden skeptisch.
VonJohanna Henkel-Waidhofer
Diesmal ist die Tonlage eine ganz andere. „Es kann keinen hundertprozentigen Schutz geben“, sagt Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), manchmal sei es eben „einfach nur tragisch und schlimm“ zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zu sein. Absolute Sicherheit werde es niemals geben können, ergänzt sogar Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU), „und wir können unsere Innenstädte nicht zu umzäunten Festungen machen“.
Nachdem ein 40-jähriger Deutscher am Rosenmontag mit hoher Geschwindigkeit in der Mannheimer Fußgängerzone in die Menge gefahren ist und zwei Menschen getötet hat, wird realitätsnäher geredet, diskutiert. Übliche Schnellschuss-Forderungen bleiben fast gänzlich aus im Vergleich zu jenen Reaktionen nach Gewalttaten von Menschen mit Migrationsgeschichte. Die private Hochschule Macromedia hat in einer Langzeitstudie schon 2019 Gründe dafür herausgearbeitet. „Seit der Kölner Silvesternacht sind Medien getrieben von dem Anspruch, genauer und umfassend hinzusehen“, steht da zu lesen – in der Berichterstattung über Gewaltkriminalität sei jedoch das genaue Gegenteil eingetreten, nämlich ein einseitiger Fokus auf ausländische Tatverdächtige.
„Emotionen sind zur Waffe geworden“, sagt der zuständige Professor Thomas Hestermann erst dieser Tage der „Zeit“. Es stehe eine ganze Betroffenheitsarmada bereit, lautstark zu trauern, „aber eben nur, wenn der Gewalttäter keinen deutschen Pass hat“.
Sind Nicht-Deutsche gewalttätig, wird der Graben zwischen Forderungen und Realität immer größer. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat nach dem Anschlag von Magdeburg ernsthaft ein bundesweites Register für psychisch Kranke in Deutschland gefordert. Er muss sich an einfache Wahrheiten erinnern lassen, etwa die, dass psychisch Kranke nicht freiwillig krank geworden sind. Und an die Folgen, „wenn wir Ihre Denkweise weiterspinnen“, schreibt die Deutsche Depressionsliga in einem offenen Brief und wirft die Frage auf, ob „beispielsweise alle Männer in einer Liste aufgeführt werden, weil sie potenzielle Gefährder ihrer Ehefrauen oder Partnerinnen sind“.
Vom Aschaffenburger „Mörder“ zu reden, dazu waren nicht nur Boulevardmedien und AfD-, sondern auch Unionspolitiker:innen im Wahlkampf prompt bereit. Dabei sprach schon bald vieles für eine psychische Erkrankung des Täters, die dann vor wenigen Tagen von Gutachtern attestiert wurde. Jetzt muss ein Gericht entscheiden, ob der 28-jährige Afghane, der mit einem Messer ein Kleinkind und einen Mann tötete, überhaupt schuldfähig ist. Die Forderung nach dem Register hat Linnemann nicht zurückgenommen.
Dabei halten gerade Ermittler:innen wenig davon. „Wir sind nicht bei Reinhard Heydrich“, sagt einer der baden-württembergischen Spezialisten mit Blick auf den Chef des Reichssicherheitshauptamts der Nazis. Es gebe Dinge, die die Polizei in der Demokratie gar nicht wissen dürfe. Ob Tatverdächtige an Aids erkrankt seien, habe in einer Kriminalitätsstatistik ebenso nichts zu suchen.
Enge Grenzen für Überwachung
Überhaupt lohnt der Blick in die Vergangenheit, um die inzwischen leichtfertig kritisierte Sicherheitsarchitektur Deutschlands zu verstehen: Es war und ist gewollt im föderalen Deutschland, dass weitreichende Kompetenzen in der Inneren Sicherheit dezentral bei den Ländern liegen, dass die Einhaltung des Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten hochgehalten wird und die Vorschriften für die Datenerfassung und -übermittlung eng gefasst sind. „Wenn der Datenschutz im Weg steht, dann muss er eben weg“, sagt CDU-Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel.
Schon 2022 befasste sich das Bundesverfassungsgericht umfassend und auf Basis der bayerischen Gesetzgebung ausführlich mit Überwachungsbefugnissen sowie mit den Unterschieden zwischen polizeilicher und nachrichtendienstlicher Arbeit. Die Staatsregierung in München wollte die Befugnisse zur Speicherung und zum Abruf von Vorratsdaten, zur Observation von Personen, zur Überwachung von Wohnungen oder der Ortung von Handys sehr bald nach dem Anschlag am Berliner Breitscheid-Platz ausweiten. Der den Ausländerbehörden bekannte, schon als Gefährder eingestufte und vorübergehend sogar festgenommene Tunesier Anis Amri mit Kontakten zur salafistischen Szene hatte 2016 auf seiner Amokfahrt über den Weihnachtsmarkt 13 Menschen getötet.
Die Karlsruher Richter:innen verwarfen aber weite Teile der bayerischen Vorgaben. Den Ermittlungsmöglichkeiten, Kooperationen und der Übermittlung von Daten wurden höchstrichterlich weiterhin enge Grenzen gesetzt. Durchsuchungen zum Beispiel – online oder von Wohnräumen – sind nur bei Vorliegen konkreter Gefahren zulässig.
Am Fall Amri lassen sich weitere Hürden aufzeigen, die sowohl die Arbeit als auch die Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten kompliziert gestalten. Und sei es nur, weil sich in den 16 Bundesländern 16 Datenschutzgesetze entwickelt haben. Die sind – siehe Manuel Hagel – keineswegs deckungsgleich. Der Stand der Digitalisierung ist unterschiedlich, die benutzten Systeme haben in den jeweiligen föderalen Strukturen Gestalt angenommen, nicht aber mit Blick auf ganz Deutschland. Bald zehn Jahre alt ist die „Saarbrücker Agenda zur Informationsarchitektur der Polizei als Teil der Inneren Sicherheit“, um die Grundlage „für eine digitale, medienbruchfreie Vernetzung mit ihren nationalen und internationalen Partnern zu schaffen“. 300 Millionen Euro wurden dafür zur Verfügung gestellt. Nach dem vorliegenden Zeitplan bis spätestens 2030 sollen „die circa 320.000 Polizeibeschäftigten in Deutschland jederzeit und überall Zugriff auf die Informationen haben, die sie für ihre tägliche Arbeit benötigen“. Ziel sei ein gemeinsames Datenhaus.
Die Polizei kann nichtalles vorab wissen
Der Präsident des baden-württembergischen Landeskriminalamts (LKA) Andreas Stenger ist ausgewiesener Cyber- und Cyber-Crime-Experte. Er schildert, dass und wie ihn „High-Tech-Entwicklungen und hochkomplexe technische Systeme im Einsatz für die Kriminalitätsbekämpfung faszinieren“, und er bekennt seine „große Leidenschaft für die Arbeit des LKA“. Straftäter seien heutzutage grenzüberschreitend mobil und transnational aktiv, sie nutzten modernste IT-Kommunikation und die gesamte Bandbreite digitaler Möglichkeiten für die Begehung von Straftaten, sagt er schon bei Amtsantritt. Die Behörden müssten deshalb zunehmend über nationale Grenzen hinweg kooperieren, um erfolgreich zu sein.
Das reiche aber nicht, „um vor die Welle zu kommen“, sagt ein Ermittler, ganz egal wie gut die Arbeit sei. Denn viele Zusammenhänge ergäben sich leider erst im Nachhinein. Erst wenn eine Straftat begangen ist, wird aus vielen Puzzleteilen, die an unterschiedlichen Stellen zusammengetragen wurden, ein Bild. Fachleute beschreiben die Problematik am Umgang mit einem Randalierer, der ortsbekannt, regelmäßig alkoholisiert, aggressiv und psychisch auffällig ist. Der wird immer wieder festgenommen, etwa weil er nachts auf offener Straße vor sich hin brüllt. Für einen Haftbefehl reichen solche Vergehen genauso wenig wie für eine Einweisung in die Psychiatrie. Ginge er aber plötzlich mit einem Messer auf andere los, kämen die beteiligten Behörden massiv unter Druck und würden mit dem Vorwurf konfrontiert, nicht früher gehandelt zu haben. Von einem „kollektiven Denkfehler“ spricht ein Beamter, wenn die Öffentlichkeit meine, die Polizei könne und müsse alles vorab wissen. Das sei unmöglich und gesellschaftlich gar nicht erstrebenswert. Vom Personalaufwand ganz zu schweigen. Die Rundumüberwachung bekannter Gefährder ist ausgesprochen aufwendig. „200 Personen können im Blick bleiben“, weiß auch der Ministerpräsident, „2.000 nicht.“
Angst: ein einträgliches Geschäft
Schon auf dem Berliner Breitscheidplatz, in Solingen, Magdeburg oder Aschaffenburg galt, dass Menschen zur falschen Zeit am falschen Ort waren und sterben mussten. Durch Berichterstattung und sich überschlagende Forderungen, asylrechtliche Vorgaben zu ändern – wiewohl das häufig an den Taten überhaupt nichts ändern würde –, ist die Wahrnehmung aber eine zugespitzte, die sich immer mehr fokussiert auf Migranten als erhebliches Sicherheitsproblem in Deutschland. Dabei sei das Risiko, in Deutschland Opfer einer Gewalttat zu werden, seit Jahren weitgehend stabil, sagt der Medienwissenschaftler Hestermann. Daran hätten selbst die Jahre 2015 und folgende nichts geändert.
„Es gab 2019 den Fall einer 37-jährigen Frau, die in Lörrach erstochen wurde“, heißt es in der Macromedia-Untersuchung. Der Fall habe alle Elemente einer grauenhaften Tat gehabt, „dennoch gab es nur eine Handvoll Berichte, die Herkunft des Tatverdächtigen, eines Deutschen, wurde nicht erwähnt“. Am folgenden Tag seien nur noch Lokalreporter am Tatort gewesen: keine Fernsehteams, keine betroffenen Politiker, nur die Spurensicherung. Als etwa zur gleichen Zeit ein Asylbewerber aus Tunesien seine Ex-Freundin mit einem Messer tötete, zählten die Studienautoren weit über hundert Berichte. Er finde es erstaunlich, so der Professor, wie manche Menschen starke Gefühle offenbar an- und ausknipsen könnten: flammende Empörung bei ausländischen Tatverdächtigen, Gleichgültigkeit gegenüber deutschen Gewalttätern. Angst sei ein einträgliches Geschäft, sie generiere Klicks, Kommentare, Wählerstimmen, „aber nur negative Emotionen zu bedienen, vergiftet die Gesellschaft“. Kretschmann warnt nach dem Mannheimer Anschlag vom Rosenmontag eindringlich davor, mit dem Leid anderer Menschen Politik zu machen. Maßstab für die Aufrichtigkeit solcher Sätze sind die Reaktion nach dem nächsten Attentat, das – leider – unausweichlich stattfinden wird.
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