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GesellschaftBuntes blindes Leben

Für fast oder ganz Blinde ist das Leben in Stuttgart voller Herausforderungen – aber auch voll überraschender Perspektiven und bemerkenswerter Kreativität. Ein Besuch im Alltag von Menschen, die ohne Augenlicht ihren Weg finden.

Michel sieht nichts und trifft doch. Foto: Jens Volle

Von Clara Heuermann

So schnell er kann, dribbelt Michel Rayer auf das Tor zu. Der Ball scheint dem Zehnjährigen an den Füßen zu kleben, dann holt er aus, schießt. Als das Publikum in Jubel ausbricht, wird dem Jungen klar, dass er getroffen hat. Michel ist einer von mindestens 71.000 Blinden, die laut statistischem Bundesamt (Stand 2021) in Deutschland leben. Dazu kommen mehr als 487.000 Menschen mit starker Sehbehinderung. Etwa 600 Blinde leben in Stuttgart, sechs davon treffen sich regelmäßig auf dem Sportplatz des MTV Stuttgart am Kräherwald.

Seit zwei Monaten spielt Michel hier Blindenfußball. Was seine beste Position ist? „Weiß noch nicht.“. Teamkapitän Mulgheta Russom ist sich dagegen sicher: „Ganz vorne am Tor, so wie er die Bälle jagt.“

Die Bälle sind von innen mit Rasseln ausgekleidet, bei jedem Ballkontakt entsteht ein Geräusch. Die Spieler werden von sehfähigen Guides und dem Trainer per Zuruf in die entsprechende Richtung dirigiert, dabei muss, wer sich einem Ball nähert, „Voy!“ rufen, Spanisch für „ich komme“. Ein bisschen paradox wirken die abgedichteten schwarzen Masken schon, die alle Spieler tragen müssen. Weil manche noch geringes Sehvermögen besitzen, sind sie aber zwecks Chancengleichheit Pflicht.

In Deutschland ist Blindenfußball noch ein sehr junger Sport. 2006 erst bildeten sich die ersten Vereine. Ursprünglich kommt der Blindenfußball aus Brasilien, schon in den 1960er-Jahren schlossen sich dort die ersten Nationalmannschaften zusammen.

Auch wenn es Blindenfußball in seiner Jugend schon gegeben hätte, Jörg Seibolds Herz hätte wohl trotzdem für die Musik geschlagen. Der 48-jährige blinde Musiker ist ein großer, kräftiger Mann. Als Kind lernte er Gitarre, später Geige, dann Querflöte, regelmäßig tritt er mit seiner Band auf.

Seine Stücke lernt er ganz ohne Noten. Stattdessen übt er mit seinem Musiklehrer Schritt für Schritt alle Teile einer auf die wesentliche Melodie beschränkten Version des Liedes ein, erst danach folgen die musikalischen Feinheiten. Einen Lehrer zu finden, der bereit ist, nur über das Gehör zu unterrichten, ist nicht leicht, eine Erfahrung, die auch Michels Eltern machen mussten, als sie nach einem Gitarrenlehrer für ihren Sohn suchten.

Blindenwerkstätten haben einen schweren Stand

Der junge Fußballfan geht in die vierte Klasse der Nikolauspflege am Kräherwald, einem Zentrum für Integration, Bildung und Beschäftigung von behinderten Menschen mit besonderem Schwerpunkt auf Sehbehinderungen. Ab der ersten Klasse lernen die blinden Schüler:innen hier das Schreiben mit normaler Tastatur wie mit der sogenannten Braillezeile. Auf diesem Gerät, einer Art Hilfstastatur, wird Computertext in Blindenschrift tastbar gemacht, umgekehrt kann damit auch in Blindenschrift geschrieben werden. „Michel beherrscht jetzt schon das Zehn-Finger-System besser als ich“, kommentiert sein Vater lachend. Dazu gibt es iPads in jedem Klassenraum, die Schulbücher sind spätestens ab der 5. Klasse digital. Für den Umgang mit Word, PowerPoint, Outlook und Excel lernen die Schüler über 70 Tastenkombinationen auswendig.

Vierzig Jahre zuvor in der Schule der Nikolauspflege – viel mit Digitalisierung war damals noch nicht. Sämtliche Postleitzahlen deutscher Großstädte hätte er stattdessen gelernt, erinnert sich Jörg Seibold, als Maßnahme zur Vorbereitung auf die praktische Arbeit im Büro und als Telefonvermittler.

Große Auswahlmöglichkeit im Job gab es für Blinde lange Zeit nicht, laut einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung war die Hälfte aller erwerbstätigen Blinden im Jahr 1997 in drei Berufsgruppen beschäftigt: als Telefonist, als Stenotypist oder Bürohilfskraft und als medizinischer Bademeister oder Masseur. Im Zweiten Weltkrieg erblindete Veteranen waren außerdem gefragte Arbeitskräfte in Blindenwerkstätten, stellten dort in Handarbeit Besen oder Körbe her.

Aber das Interesse am Handwerk sinkt, die Preise konkurrierender Anbieter für die hergestellten Waren ebenfalls. Es ist kein Wunder, dass Blindenwerkstätten mittlerweile einen schweren Stand haben. Sie werden nicht staatlich gefördert – anders als Behindertenwerkstätten, die ebenfalls Blinde und Sehbehinderte beschäftigen. „Der blinde oder sehbehinderte junge Mensch gehört nicht in eine Behindertenwerkstatt, wenn ihm sonst nichts fehlt“, ist die klare Meinung von Heinz Willi Bach, promovierter Volkswirtschaftler und ein Sprecher des Deutschen Vereins für Blinde und Sehbehinderte in Studium und Beruf e.V.. Immer dann, wenn in den vergangenen Jahrzehnten der Arbeitsmarkt ausgelastet gewesen sei, erklärt er, seien Blinde in Behindertenwerkstätten untergebracht worden. „Aber sie wurden dort weder gefördert noch gefordert und waren in der Regel sozial isoliert.“

Siri und Alexa schreiben die Einkaufszettel

Dass seit den 1950er- und 1960er-Jahren der Anteil an Blinden und stark Sehbehinderten, die auf dem regulären Arbeitsmarkt unterkommen, stark zugenommen hat, führt Bach vor allem auf gute Vermittlungsarbeit der Agentur für Arbeit und auf den aktuellen Fachkräftemangel in Deutschland zurück: „Man kriegt Leute unter, die vor zehn, 15 Jahren noch keine Chance gehabt hätten.“

Michels Eltern würden ihren Sohn gerne nach Marburg schicken, in der dortigen Blindeneinrichtung Blista könnte er Abitur machen, dazu rühmt sich die Philipps-Universität Marburg mit ihrer blindenfreundlichen Ausstattung.Erste Hardware- und Software-Ergänzungen, die die Computertechnik barrierefrei machen sollten, gab es schon in den 80ern. „Aber diese Hilfsmittel waren damals sehr, sehr teuer“, erinnert sich Jürgen Sommer, Informatiker und Beauftragter für Digitalisierung des Blinden- und Sehbehindertenverbands Württemberg.

Mittlerweile schreiben Sprachassistenten wie Siri und Alexa die Einkaufszettel und selbst Spülmaschinen können heute per Sprachein- und -ausgabe genutzt werden. Dazu kommen immer mehr Navigationsapps, die Selbstständigkeit im öffentlichen Raum erleichtern sollen.

„Dass man als Blinder oder Sehbehinderter alleine unterwegs sein kann, ist schon lange der Fall“, sagt Winfried Specht, Beauftragter für Infrastruktur des Blinden- und Sehbehindertenverbands Württemberg. Aber, fährt er fort: „Die Welt heute ist schneller, hektischer, voller.“ Es beginne schon bei ganz grundsätzlichen Dingen, dem Ausweichen vor anderen Menschen zum Beispiel. Infrastrukturelle Probleme machen es nicht leichter, das Fehlen von Ampeln mit Ton etwa, unregelmäßig hohe Bordsteinkanten oder Schienenersatzverkehr.

Ernsthafte Gefahren können auch ganz alltägliche Stolperfallen darstellen. Umgeworfene E-Roller etwa, aber auch Hindernisse, die mit dem Blindenstock nicht ertastet werden können wie geöffnete Heckklappen und Garagentore. Hier könnten einmal Forschungsergebnisse der Universität Ulm weiterhelfen, die gerade an einem Projekt zur Entwicklung dreidimensionaler digitaler Navigationshilfen arbeitet.

Ein Leben auf Minidiscs

Der Musiker Jörg Seibold hat es nicht so mit der Digitalisierung. Ein Handy besitzt er zwar, daneben ist das Aufnahmegerät aber sein wichtigstes Werkzeug. In seiner Wohnung stapeln sich Minidiscs mit Audiomaterial vergangener Erlebnisse, eine Sammlung auditiver Erinnerungsalben. Minidiscs, anfang der 1990er auf den Markt gebracht, sind längst überholt, aber das ist Seibold egal: „Ich bin so ein Typ, der sich von Altem schwer trennen kann.“

Er ist nicht der Einzige: „Die technische Entwicklung ist so rasant, wenn Sie da nicht ständig am Ball bleiben, haben Sie keine Chance“, führt der Digitalisierungsexperte Sommer aus. Hinzu kommt, dass viele digitale Hilfsmittel Aufmerksamkeit ihrer Benutzer einfordern, die sie eigentlich zur Orientierung brauchen. „Ich würde nie mit einem Kopfhörer durch die Stadt laufen“, erklärt Sommer, selbst schwer sehbehindert, obwohl genau das für die Nutzung vieler digitaler Hilfen notwendig ist. Dazu kommt eine lange Eingewöhnungszeit, um sich mit der Technik, an der schließlich die eigene Sicherheit hängt, vertraut zu machen. Verstärkt werde das Problem durch fehlende Einheitlichkeit. Es bräuchte ein Sammelsurium unterschiedlichster Apps, die alle auf eigene Weise funktionieren, um sich im öffentlichen Raum zurechtzufinden. Und ganz generell: Viel schneller als beim Rest der Bevölkerung wächst die Abhängigkeit Blinder und Sehbehinderter von digitaler Assistenz, da tun sich Fragen um Datenschutz, um Manipulation und Angreifbarkeit digitaler Systeme auf.

Grundsätzlich, glaubt Sommer, sei das Potenzial für künftige technische Entwicklungen enorm, und das beinhaltet nicht nur Handys als digitale Orientierungsunterstützung und Smart-Home-Systeme, die bei der Haushaltsführung aushelfen. Vielleicht – wer weiß? – sitzen Blinde auch bald allein in selbstfahrenden Autos.

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