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Gesellschaft„Liefern Sie uns keine Waffen mehr“

Sie sind für den Stuttgarter Friedenspreis nominiert: die Combatants for Peace. Die binationale Organisation von ehemaligen israelischen Soldat:innen und einstmals kämpfenden Palästinenser:innen steht für Gewaltfreiheit. Ein Gespräch mit dem Israeli Rotem Levin, der derzeit mit dem Palästinenser Osama Iliwat durch Deutschland reist.

Rotem Levin (links) bei seiner Deutschlandtour mit Osama Iliwat. Foto: Combatants for Peace/Marc Doradzill

Von Gesa von Leesen (Interview)

Herr Levin, sind Sie hoffnungsvoll, dass es zu einem Waffenstillstand zwischen der Hamas und Israel kommt?

Hoffnung ist etwas, das wir wählen. Das passiert nicht von alleine, wir müssen uns dafür entscheiden. Und ich finde Hoffnung in vielen Dingen – zuallererst in meiner Verbindung zu Osama und durch diese Tour, die wir machen. Wir treffen jeden Tag viele Menschen, arabische Einwanderer, Juden, Deutsche, und die Reaktionen sind sehr unterstützend. Es fühlt sich tatsächlich sehr gut an, auf diese Weise aktiv zu sein.

Und ja, ich sehe hoffnungsvoll auf diese Verhandlungen, aber ich weiß: Der Frieden, die Lösung und die Befreiung, die wir suchen, wird nicht an einem Tag passieren. Es ist ein sehr langer Prozess. Selbst wenn sie eine Einigung erzielen und die Geiseln zurückbringen und den Krieg beenden, haben wir auf beiden Seiten viel zu tun, um echten Frieden zu erreichen. Diesen Ort, an dem wir gleichberechtigt zusammenleben. In Freiheit für alle, in Sicherheit. Ein Waffenstillstand kann ein erster Schritt sein. Aber wir müssen immer noch die Art und Weise ändern, wie wir im Land leben, denn im Moment funktioniert das System nur für die Juden. Und solange einige Leute nicht in das System aufgenommen werden, solange einige Leute nicht die gleichen Rechte haben wie ich, wird es Widerstand geben.

Combatants for PeaceSeit 2006 begegnen sich bei Combatants for Peace ehemalige israelische Soldat:innen und palästinensische Widerstandskämpfer:innen. Selbst haben sie Gewalt erfahren und/oder ausgeübt und sind zu dem Schluss gekommen: Mit Gewalt ist ihre Heimat nicht zu befrieden. Die Combatants organisieren Treffen von Palästinenser:innen und Israel:innen und reisen, um ihre Botschaft von einem gewaltlosen Miteinander zu verbreiten. Aktuell sind nach Angaben der Organisation rund 600 Menschen für Combatants for Peace aktiv.

Wenn ich in den Nachrichten die Demonstrationen in Israel sehe, frage ich mich immer, ob es dabei ausschließlich um die Befreiung der Geiseln geht oder ob sich auch eine Art von Solidarität mit den Palästinenser:innen entwickelt?

Ich denke, die Mehrheit ist hauptsächlich an den Geiseln interessiert. Und sie wollen ihre Kinder nicht mehr in den Kampf nach Gaza schicken, weil sie wissen, dass es gefährlich ist. Die Menschen suchen schon nach alternativen Lösungen. Aber viele von ihnen haben keine Hoffnung, sie können keine Lösung finden. Ich würde sagen, dass gerade ein Wandel stattfindet. Immer mehr Menschen beginnen zu erkennen, dass dieser Krieg nicht bald enden wird und dieser Konflikt nicht mit Waffen gelöst werden kann. Die Waffen schützen uns nicht. Nicht die Juden und nicht die Palästinenser. Wenn wir in diesem Land wirklich sicher leben wollen, müssen wir die Richtung ändern.

Sie und Osama Iliwat erzählen, dass Sie in Ihrer Kindheit und Jugend nie echten Kontakt zu Palästinenser:innen beziehungsweise umgekehrt zu Israelis hatten. Wie kann das sein?

Die zionistische Bewegung hatte die Idee, einen jüdischen Staat gründen zu wollen. Das bedeutet, dass sie in das Land kamen und Siedlungen nur für Juden bauten. Sie haben ein separates System für Juden geschaffen. Wir leben also in einer getrennten Realität. Juden leben in ihren Dörfern, gehen in ihre Schulen, und Palästinenser leben in ihren Dörfern und gehen in ihre Schulen. Es gibt nur ein paar gemischte Städte mit ein paar wenigen gemischten Schulen. Und im Westjordanland sind die Palästinenser keine Bürger, sie haben keine Menschenrechte. Sie haben nichts. Sie sind vom gesamten System ausgeschlossen.

Wie haben Sie dieses Denken abgelegt?

Ich habe vor elf Jahren in Deutschland an einem Dialog mit Palästinensern teilgenommen. Wir saßen zwei Wochen da und haben über alles gesprochen, und ich habe gesehen, wie emotional sie waren und wie viel Schmerz sie hatten, als sie mir von ihrer Geschichte erzählten, von ihrer Katastrophe. Und irgendwie konnte ich ihrem Leid nicht gleichgültig gegenüberstehen. Ich wollte mehr über sie und ihre Geschichte erfahren, von der ich noch nie zuvor gehört hatte, also von der Nakba. So wurde ich aktiv. Zunächst habe ich mich auf meine persönliche Veränderung konzentriert. Denn um die Realität zu ändern, musste ich erst Frieden in mir finden. Ich musste mich mit mir selbst versöhnen und mit meiner Gesellschaft, der israelischen Gesellschaft.Am Anfang war ich sehr voreingenommen meinen eigenen Leuten gegenüber. Ich habe verstanden, dass es ein sehr schmerzhafter und schwieriger Prozess ist, den wir Israelis durchmachen müssen. Und ich habe zu Mitleid mit meinen Leuten gefunden, die immer die Täter zu sein scheinen. Aber – es geht darum, Mitleid mit allen zu empfinden. Denn wir sind alle traumatisiert. Menschen verhalten sich auf bestimmte Weise, weil sie Angst haben, weil sie Schmerzen haben aufgrund des kollektiven Traumas, wegen dieses Systems der Indoktrination, das uns trennt und nicht will, dass wir etwas über den anderen erfahren. Wir müssen Fürsorge und Mitgefühl zulassen gegenüber allen Menschen, die in diesem Land leben.

Hat sich Ihre Arbeit in Israel nach dem Terroranschlag und dem Krieg verändert?

In Israel war es nach dem 7. Oktober etwas heikler, weil die Menschen wieder sehr traumatisiert waren und nicht an Frieden glaubten. Viele Menschen, die davor Friedensaktivisten waren, beschlossen, zur Armee zurückzukehren um zu kämpfen. Es gab also einen Moment von: Wie können wir weitermachen? Denn egal was passiert, wir wenden keine Gewalt an. Es gab also Diskussionen darüber, und nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, dass wenn du Teil unserer Bewegung sein willst, du nicht Teil des gewalttätigen Kreises sein kannst, konnten wir die Arbeit fortsetzen. Denn noch einmal: Palästinenser waren nie sicher, sie waren immer in Gefahr. Niemand schützt sie. Nach dem Terroranschlag spüren die Israelis wirklich Gefahr. Sie gehen zurück zur Armee, erwarten aber, dass die Palästinenser nicht Teil des gewaltsamen Widerstands sind oder werden. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sowohl Gewalt gegen die israelische Armee als auch gegen den palästinensischen Widerstand nicht akzeptabel ist. Wenn wir eine neue Realität schaffen wollen, eine friedliche Realität, müssen wir die Gewalt auf beiden Seiten vollständig ablehnen.

Und was machen Sie und Ihr Partner von Combatants for Peace, Osama Iliwat, in Deutschland?

Wir wollten zunächst für zwei Wochen touren, ab Mitte Oktober. Zwei Wochen nach dem 7. Oktober reisten wir zusammen nach Deutschland – und blieben fünf Monate. Wir haben auf den Veranstaltungen über 12.000 Menschen getroffen. An Universitäten, Gymnasien, auf öffentlichen Veranstaltungen. Im Februar sind wir zurück nach Israel und sprachen hauptsächlich mit israelischen Teenagern. Vor dem Militärdienst haben sie ein Jahr Zeit, um sich auf ihren Dienst vorzubereiten, an einer Art vormilitärischen Hochschule. Dann erhielten wir wieder Einladungen aus Deutschland. Jetzt sind wir für den nächsten Monat hier und jeden Tag in einer anderen Stadt.

Friedensaktivist statt SoldatRotem Levin, 33, ist in einem Dorf in der Nähe von Tel Aviv aufgewachsen und hat Medizin studiert. Während seines dreijährigen Wehrdiensts bekam er in einem Dorf südlich von Bethlehem den Befehl, Schallgranaten in ein palästinensisches Haus zu werfen. Danach war er schockiert über sich selbst. Er lernte arabisch, befasste sich mit der Geschichte Palästinas und ist mittlerweile überzeugt, dass Israelis und Palästinenser:innen gleichermaßen traumatisiert sind und nur Begegnungen und Kennenlernen zu Frieden führen. Eigentlich lebt er in einem selbst ausgebauten Bus. Den hat er allerdings gerade vermietet, erzählt er und sagt: „Gerade bin ich ein bisschen obdachlos.“

Geht es bei den Diskussionen in diesen Veranstaltungen mal härter zu oder kommen nur Menschen mit ähnlichen Einstellungen?

Wir beginnen zunächst damit, dass wir unsere persönlichen Geschichten teilen. Jeder aus seiner Realität, seiner Gesellschaft, und wie wir zu uns selbst gefunden haben. Wir glauben an gewaltfreien Widerstand, wir leben in Frieden miteinander und wir versuchen, unsere Erkenntnisse über diesen Prozess, diese Versöhnung, zu verbreiten. Es geht um das Zusammenkommen, um die Heilung des Traumas, darum, die Regeln und Rollen von Opfer und Täter loszulassen. Und dann gibt es viele Fragen. Manche Menschen werden von unseren Geschichten herausgefordert, weil es ganz besondere Geschichten sind. Sie bieten ihnen eine neue Strategie, eine neue Perspektive für die Zukunft. Manche Menschen sind verwirrt. Sie haben Angst davor, mit uns zu träumen. Es ist beängstigend, ein Träumer zu sein, weil du den Mainstream verlassen musst. Wir kämpfen nicht für die Israelis oder für die Palästinenser, wir kämpfen für die Menschlichkeit. Und ja, die meisten Leute, ich würde sagen 90 Prozent, unterstützen uns sehr. Und sie sind sehr gerührt und bewegt von unseren Geschichten.

Gibt es gar keinen Widerspruch?

Wir haben immer ein paar wenige, die verärgert sind und kämpfen wollen, sie vertrauen nicht und sie haben Angst. Ich verstehe das, ich war auch so, als ich jünger war. Aber jetzt versuchen wir, eine neue Botschaft zu verbreiten, die uns hilft, gemeinsam voranzukommen, alle Israelis und Palästinenser und auch Deutsche und Amerikaner und alle anderen, denn in diesem Konflikt geht es nicht nur um Israel und Palästina. Und wir können die Reaktionen der Welt auf diesen Konflikt sehen. Wir sind uns auch bewusst, dass es Länder gibt, die mitschuldig sind. Sie schicken Waffen. Und diese Waffen schützen niemanden, nicht die Israelis, nicht die Palästinenser, sie schüren nur noch mehr Hass. Menschen verlieren ihre Lieben, verlieren die Hoffnung in die Zukunft und wollen sich rächen. Deshalb sagen wir, dass wir diese Waffen nicht brauchen. Bitte hören Sie auf, uns Waffen zu liefern. Wir brauchen Heilung. Wir müssen zusammenkommen. Wir müssen uns gegenseitig helfen aus diesen Welten, in die wir hineingeboren wurden.

Das ist Ihre Forderung an die deutsche Regierung: Waffenlieferungen an Israel zu stoppen?

Ja.

Wurden Sie bei den Veranstaltungen hier in Deutschland schon mal als antisemitisch bezeichnet?

Ja, bei der evangelischen Akademie in Frankfurt.

Und was sagen Sie dann?

Ich sage, die Deutschen sollten sich zuerst darüber informieren, was Antisemitismus bedeutet. Denn wenn sie denken, dass Kritik an Israel antisemitisch ist, haben sie die Lektion aus dem Holocaust nicht gelernt. „Nie wieder“ heißt: nie wieder für alle. Nicht nur für jemand bestimmten. Wenn wir für nur ein Volk kämpfen, gehen wir in die falsche Richtung, wenn wir kein Mitgefühl haben mit allen Menschen, gehen wir in die falsche Richtung.

Unter dem Titel „Ein gerechter Frieden in Israel und Palästina – eine Utopie?“ berichten Rotem Levin und Osama Iliwat am Donnerstag, dem 18. Juli in Esslingen über ihre Arbeit. Die Veranstaltung des Esslinger Friedenbündnisses mit Unterstützung des DGB Esslingen-Göppingen beginnt um 19 Uhr im Gewerkschaftshaus, Julius-Motteler-Straße 12. Das Gespräch findet auf Englisch statt und wird übersetzt.

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