Gesellschaft: „Mein Fleisch und Blut“
Denis Cerimi soll nach Serbien abgeschoben werden. Dabei wird seinen fünf minderjährigen Kindern – vier davon deutsche Staatsbürgerinnen – das Recht verwehrt, mit ihrem Vater zusammenzuleben. Für die Behörden steht der Abschiebewille über dem Recht der Kinder.
Von Franziska Mayr
Frühmorgens klingelte Denis Cerimis Telefon. Ein Anruf aus Deutschland. Am anderen Ende der Leitung hört er seine kleine Tochter. Sie wollte nicht in den Kindergarten, ohne vorher mit ihrem Papa gesprochen zu haben. „Papa, wieso bist du nicht zu Hause? Papa, wann kommst du wieder?“, fragte das Mädchen. Cerimi wusste nicht, was er ihr antworten soll. Er wusste nicht, wann er wieder aus Serbien zu seiner Familie zurückkehren würde.
Diese Situation gab es oft zwischen 2018 und 2023. Nun droht dem 30-Jährigen mit serbischer Staatsbürgerschaft die zweite Abschiebung. Wieder soll er seine Partnerin und ihre fünf gemeinsamen Kinder in Waiblingen zurücklassen. Dagegen ist Cerimi rechtlich vorgegangen – bislang ohne Erfolg. Der behördliche Abschiebewille steht gegen das Recht der Kinder, mit ihrem Vater aufzuwachsen. Deutsche Rechtsprechung steht gegen europäisches Recht. Doch neben all der Juristerei geht es in erster Linie ums Menschliche: um einen Vater, eine Mutter, einen Sohn, vier Töchter, eine ganz normale Familie, die – wie sie selbst sagt – „einfach in Frieden zusammenleben möchte“.
Seit 1999 lebt Cerimi in Deutschland. Fünf Jahre verbrachte er nach seiner ersten Abschiebung in Serbien. „Für mich als Roma gibt es dort keine Zukunft, die Kinder bekommen nicht mal einen Schul- oder Kindergartenplatz.“ Kein Recht auf Arbeit, keine Krankenversicherung, Diskriminierung durch die dortigen Behörden. In den Schulferien besuchte ihn seine Familie, doch seine Partnerin Alinda Vrankaj konnte meist nicht alle Kinder mitnehmen. „Das war zu teuer“, sagt Cerimi. Vor beinahe einem Jahr durfte er nach Deutschland zurückkehren, nachdem die frühere Ausweisung vom Verwaltungsgericht Stuttgart für rechtswidrig erklärt wurde. Das Recht der Kinder auf ihren Vater sei nicht angemessen berücksichtigt worden.
Nun hat dasselbe Verwaltungsgericht beschlossen, dass Cerimi Deutschland erneut verlassen soll. „Diese Doppelmoral macht mich wirklich kaputt“, sagt er. Und wiederum spielen seine Kinder eine entscheidende Rolle. Für die Ausländerbehörde und für das Gericht wiegt das Interesse der Kinder, ihren Vater bei sich zu haben, nicht mehr als das eigene Interesse, Cerimi zur Nachholung des Visumverfahrens zurück nach Serbien zu schicken. „Ich kann das psychisch und sachlich nicht verstehen“, sagt der Familienvater. Er ist aufgewühlt, seine Emotionen dringen durch das Telefon. „Vielleicht haben die Richter keine Kinder und können das nicht nachempfinden.“
Ab wann braucht ein Kind seinen Vater?
Cerimis Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung wurde im September vergangenen Jahres von der Ausländerbehörde Waiblingen abgelehnt. Auch die vielen Beschwerdeanträge seines Anwalts blieben erfolglos. Am 18. April 2024 lag der Bescheid des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Baden-Württemberg in Cerimis Briefkasten: Sein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wurde letztinstanzlich abgelehnt. Heißt: Cerimi ist ausreisepflichtig und kann jederzeit abgeschoben werden.
Fünf Tage später, halb neun Uhr morgens: Die Polizei klingelt an Cerimis Tür, um ihn abzuholen. Doch er ist mit seiner ältesten Tochter bei der Nachkontrolle ihrer Augen-OP. Später wird er erzählen, wie sehr er seine Kinder vermissen würde, wenn er das Land wieder verlassen müsste. Er findet kaum Worte dafür. „Um Gottes Willen, das ist mein Fleisch und Blut.“
Was seine drei älteren Töchter anbelangt – zehn, sieben und fünf Jahre alt –, geht das Verwaltungsgericht davon aus, „dass diese die zeitweisen Trennungen von ihrem Vater aufgrund der vergangenen Umstände gewöhnt sind und solche Trennungen ohne jegliche Beeinträchtigungen überbrücken können“. Bei seiner kleinsten Tochter, die im Juli vergangenen Jahres geboren wurde und somit von Anfang an in einem Haushalt mit ihrem Vater aufgewachsen ist, greift diese Argumentation nicht. Stattdessen spreche „aufgrund des noch sehr geringen Alters“ des Kindes „viel dafür, dass bisher noch keine tragfähige Beziehung entstanden ist, die so stabil ist, dass die Beendigung des Aufenthalts“ von Cerimi „vom Kind schmerzhaft als endgültiger Verlust einer zentralen Bezugsperson wahrgenommen werden könnte“. Damit hat das Gericht die Argumentation der Ausländerbehörde übernommen. Ab welchem Alter des Kindes von einer „tragfähigen“ Vater-Kind-Beziehung auszugehen sei, kann die Stadt Waiblingen auf Kontext-Anfrage „nicht generell beantworten“. Die Wissenschaft sieht das anders: Bindungstheorien besagen, dass spätestens ab dem achten Monat eines Kindes eine stabile Bindung entsteht und die Anwesenheit des Vaters essenziell ist.
Schule und Kinderärztin bestätigen Cerimis Fürsorge
„Solche Fälle haben vor sieben Jahren eine besondere Note bekommen“, sagt Cerimis Anwalt Thomas Oberhäuser. Damals hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) eine neue europarechtliche Komponente eingebracht: den Unionsbürger. „Ein deutsches Kind ist demnach automatisch auch ein Unionsbürgerkind mit besonderen Rechten.“ Dieser Artikel 20 des Arbeitsvertrags der EU (AEUV) spielt im Fall Cerimi deshalb eine Rolle, weil vier seiner fünf Kinder – nur sein elfjähriger Sohn nicht – die deutsche Staatsbürgerschaft haben und aus der entsprechenden Norm ein EU-rechtliches Aufenthaltsrecht für den drittstaatsangehörigen Elternteil abgeleitet werden kann. In Cerimis Fall: Wenn seine deutschen Kinder durch die Abschiebung ihres Vaters gezwungen wären, Deutschland ebenfalls zu verlassen, dürfte auch der Vater nicht abgeschoben werden. Oberhäuser hat bereits eine Beschlussänderung beantragt und eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt – denn das deutsche Recht widerspreche hier der europäischen Rechtsprechung. Die Grundsatzfrage sei ganz einfach, sagt er: „Darf der Vater von vier deutschen Kindern mit seinen Kindern zusammenleben, obwohl er Visavorschriften missachtet hat?“ Nein, finden die Behörden und Verwaltungsgerichte.
Fragt man sie nach der aktuellen Situation, fließen ihr Tränen über die Wangen. Alinda Vrankaj entschuldigt sich, sie sei ziemlich emotional. „Manchmal weiß ich nicht mehr, wo uns der Kopf steht“, sagt die 28-Jährige mit kosovarischen Wurzeln, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist und eine Niederlassungserlaubnis besitzt. „Das macht ja auch was mit der seelischen Seite.“ Cerimis Recht auf einen Aufenthaltstitel ergebe sich hier „nicht aus einem von dessen vier deutschen Kindern abgeleiteten Recht aus Art. 20 AEUV“, schreibt das Verwaltungsgericht in seinem Beschluss. Der VGH stimmt zu: Cerimi habe nicht konkret dargelegt, „dass er und seine Lebensgefährtin sich auch tatsächlich alltäglich das Sorgerecht sowie die rechtliche, finanzielle und affektive Sorge teilen“. Seit seiner Wiedereinreise nach Deutschland im vergangenen Juli lebt Cerimi mit Vrankaj und den fünf Kindern in einem Haushalt. „Er geht mit unserem Sohn zum Friseur, bringt die Kleinen in den Kindergarten, die größere Tochter in die Schule, wechselt der Kleinsten die Windeln. Er hilft beim Kochen und im Haushalt“, sagt Vrankaj verzweifelt. „Er macht alles. Außer stillen natürlich.“ Auch ein Schreiben der Grundschule, des Kindergartens und der Kinderärztin, die diese Fürsorge seitens Cerimi für seine Kinder erläutern, änderten nichts an der Haltung des Gerichts.
Trennung auf unbestimmte Zeit
Der Familienvater soll zurück nach Serbien, um sein Visum zu beantragen, denn „die zeitliche Trennung vom Vater“ sei „nicht in einem Maß gravierend, das zu einer seelisch nicht verkraftbaren Beeinträchtigung in der Entwicklung“ der kleinsten Tochter führen würde. In diesem Alter könne das Kind „den nur vorübergehenden Charakter einer Trennung“ ohnehin nicht begreifen. Doch ob die „damit einhergehende Trennung des Antragstellers von seiner Familie dauerhafter Natur sein oder lediglich einen kurzen Zeitraum in Anspruch nehmen wird“, kann das VGH nicht prognostizieren. Cerimis Anfrage bei der Visastelle zufolge ist es jedenfalls möglich, dass das mit der Anerkennung nicht so einfach klappen wird. Grund: Das Regierungspräsidium sieht Cerimi als „Gefahr für die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit“ an. Aufgrund dreier Straftaten in den Jahren 2015, 2017 und 2018 bestehe laut Behörden eine Wiederholungsgefahr: Vorgeworfen werden Cerimi Betrug beim Online-Verkauf seines alten Autos, versuchte Nötigung, weil er eine Gemeindemitarbeiterin bedroht haben soll, um die Aufhebung einer Lohnpfändung gegen seinen Vater zu erreichen, und Verleumdung mit Verstoß gegen das Kunsturhebergesetz – er soll ein Bild einer Mitarbeiterin der Stadt Backnang in eine Facebook-Gruppe eingestellt und sie bezichtigt haben, der AfD Backnang anzugehören.
Per Gerichtsentscheid zur alleinerziehenden Mutter
„Er kann jetzt einfach mal weg, für die Kinder ist das seelisch verkraftbar. Das sagt das Gericht einfach mal so“, sagt eine Mitarbeiterin des Büros für Diskriminierungskritische Arbeit in Stuttgart (BfDA), bei der Cerimi seit vielen Jahren in Beratung ist. „Da fehlen mir die Worte. Das ist einfach unfassbar.“ Sie verweist auf die Rechte der Kinder auf Familienzusammenführung durch die UN-Kinderrechtskonvention und das Recht auf Ehe und Familie im Grundgesetz, „das sonst immer so prominent in den Raum gestellt wird, aber nicht für alle gleich gilt“.
Für die Behörden stehe eines über allem: „Da Cerimi in seiner Jugend kriminell war, muss er weg.“ Es hätte verschiedenste Gelegenheiten gegeben, sich für Cerimi zu entscheiden, sagt die Beraterin vom BfDA. „Dass das nicht gemacht wurde, war eine aktive Entscheidung von Gerichten. Auch Behörden scheinen unserem Eindruck nach alles daran zu setzen, Menschen loszuwerden, die sie als sogenannte ‚kriminelle Ausländer‘ einsortiert haben, unabhängig von persönlicher Lebenssituation und Diskriminierung.“ Das behördliche Vorgehen im Fall Cerimi sei immer wieder „total absurd“ gewesen, deshalb habe sich die Beratungsstelle zum ersten Mal seit ihrem Bestehen in zwei Briefen direkt an das Gericht gewandt. Darin kritisiert sie offen vorgetragene Unwahrheiten seitens der Ausländerbehörde Backnang bereits im Gerichtsprozess zu Cerimis erster Abschiebung – er habe die Vaterschaft für seine Kinder nicht anerkannt, obwohl alle nötigen Unterlagen vorlagen –, ein damals verhängtes unverhältnismäßig langes Einreiseverbot von acht Jahren bis hin zur totalen Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass Roma-Familien in Serbien strukturell diskriminiert werden. Außerdem erläutert das BfDA, dass sich niemand auch nur „im Entferntesten in die Psyche von Kindern hineinfühlen“ könne, „die dauerhaft mit der Unsicherheit leben, ob ihr Vater kommen darf, bleiben darf, von der Polizei festgenommen wird“.
Und auf die Situation der Mutter werde überhaupt nicht eingegangen, sagt die BfDA-Beraterin. „Sie wird per Gerichtsentscheid zur alleinerziehenden Mutter von fünf jungen Menschen gemacht.“ Das Gericht argumentiert, dass die Mutter die tägliche Sorge für die Kinder über einen Zeitraum von knapp fünf Jahren alleine wahrgenommen habe. Es deute nichts darauf hin, dass das bei einer möglichen Abschiebung Cerimis nun nicht mehr möglich wäre. Dass durch die Geburt der jüngsten Tochter im vergangenen Jahr ein weiteres zu versorgendes Kind dazugekommen ist, wird nicht thematisiert. Zwischen Schule, Kindergarten, Fußballtraining und Baby versorgen bleibt der Familie tagsüber kaum Zeit, sich Sorgen zu machen. „Wenn die Kinder nachts schlafen, kommt alles hoch“, sagt Vrankaj, die fünffache Mutter.
Damals, nach dem morgendlichen Telefonat mit dem Papa in Serbien, musste sie ihrer Tochter erklären, warum er nicht bei ihnen sein kann. Als Cerimi die Kleine am anderen Ende der Leitung weinen hörte, hat er aufgelegt, erzählt er. „Was hätte ich ihr denn sagen sollen?“ So etwas will er nicht noch einmal erleben.
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