piwik no script img

GesellschaftZukunft ausprobieren

In der Gemeinschaft Schloss Tempelhof bei Crailsheim keimen Wildkräuter und neue Ansätze: Selbstbestimmung, Wärmewende, regenerative Landwirtschaft. Ein Lern- und Experimentierfeld für alle Generationen.

Ein skatendes Huhn am Dorfeingang.. Fotos: Joachim E. Röttgers

Von Dietrich Heißenbüttel

Bevor sich Ben Hadamovsky der damals ganz neuen Gemeinschaft Schloss Tempelhof anschloss, segelte er mit seiner Frau Carola und ihren zwei kleinen Kindern fünf Jahre lang um die Welt. Dann suchte die Familie ein neues Heim. Und die Gemeinschaft einen Bauleiter für die Altbaurenovierung. Ein Job für den handwerklich erfahrenen Hadamovsky.

Schloss Tempelhof hat nichts mit dem Berliner Flughafen zu tun, vielmehr handelt es sich um einen Teilort der Gemeinde Kreßberg bei Crailsheim, im Nordosten Baden-Württembergs unweit der bayrischen Landesgrenze. Das Schloss war Sitz der Herren von Kreßberg, seit die mittelalterliche Burg Hohenkressberg im 17. Jahrhundert abbrannte. Heute leben dort etwa 150 Erwachsene, Jugendliche und Kinder.

Die Gemeinschaft Schloss Tempelhof versteht sich als Zukunftswerkstatt. Zwanzig Münchner:innen waren vor etwa 15 Jahren zu der Überzeugung gelangt, dass es mit unserer Welt, so wie sie ist, nicht mehr lange so weitergehen kann. Die Gruppe wollte neue Wege ausprobieren: Verbundenheit mit anderen Menschen und der Natur, eine andere Landwirtschaft, neue Formen des Zusammenlebens. So kamen sie zu ihrem Schloss, das zuletzt eine Behinderteneinrichtung war und seit Jahren leer stand. 2010 erwarben sie das Areal für 1,6 Millionen Euro.

Drei Millionen Euro Umsatzim Jahr

Zu den Mitgliedern der Gemeinschaft gehören auch einige Mitarbeiter:innen, Angestellte im Landwirtschaftsbetrieb oder in der Küche, die zum Teil auch auf dem Areal wohnen, von außerhalb sind regelmäßig ein paar Jugendliche da, ebenso die Hälfte der 96 Schüler:innen. Dass die Gemeinschaft eine eigene Schule braucht, war schnell klar. „Wenn man auf dem Land wohnt und kein Altenwohnprojekt sein will, dann braucht man eine Schule“, sagt Hadamovsky. Der 57-jährige, groß, kurze Haare, ist ein reflektierter Mensch, keineswegs ein klassischer Aussteiger, sondern einer, der versucht, die Gemeinschaft weiterzudenken, auch als Modell für die Gesellschaft als Ganzes.

Die Schule funktioniert wie Reformschulen seit eh und je: nach dem Prinzip des selbstbestimmten Lernens, orientiert an der Montessoripädagogik und der Aktiven Schule nach Rebecca Wild. Die Werkrealschule ist als Modellschule genehmigt. Es gibt keine Prüfungen – was beim Regierungspräsidium auf Verständnisschwierigkeiten stößt –, von sich aus können die Schüler:innen bis zum Abitur lernen, müssen sich dann allerdings die Prüfungen anderswo abnehmen lassen.

Ökonomisches Herzstück der Gemeinschaft ist der Seminar- und Veranstaltungsbetrieb. Insgesamt erwirtschaftet die Gemeinschaft einen Jahresumsatz von drei Millionen Euro. Aktuell findet gerade ein viertägiges Seminar über indigenes Wissen statt. Gäste vom Volk der Kogi sind aus Kolumbien angereist. Leben im Einklang mit der Natur: Das, wonach die Bewohner:innen am Tempelhof suchen, ist bei ihnen gelebte Praxis. Lässt sich davon etwas auf unsere heutige Welt übertragen? Das Seminar stößt auf großes Interesse, viele Teilnehmer:innen sitzen zum Mittagessen vor dem Dorfhaus oder auf der Wiese davor.

Das Dorfhaus besteht aus der professionell betriebenen Küche mit einem schönen, runden Anbau aus Holz. Baulich tut sich einiges auf dem Gelände: Das Seminar- und Gästehaus, eine ehemalige Behindertenwerkstatt, ist jüngst aufgestockt worden. Die Schule hat einen Anbau und einen Neubau bekommen. Neu sind das Werkhaus und der „Wohnturm“ mit 15 Zimmern. Kostenpunkt: zwei Millionen Euro.

Ein Erdschiff aus recycelten Materialien

Das Gegenmodell ist das „Tempelfeld“ gleich daneben, wo ebenfalls 15 Menschen wohnen. Baurechtlich ein Sonderfall, gilt es doch als eine große Wohnung mit Bauwagen, Tiny Houses und Jurten als Zimmern und einem besonderer Bau, der als Gemeinschaftsraum, Küche, Bad und Gewächshaus dient: das Earthship.

Das Prinzip hat der amerikanische Architekt Michael Reynolds in den 1970er-Jahren entwickelt: Das Earthship ist ein Bau aus recycelten Materialien – mit Lehm gefüllte Autoreifen, in die Wand eingelassenen Flaschenböden und anderes mehr. Die Energie liefert allein die Sonne, das Wasser ist Regenwasser vom Dach, intelligent mehrfach genutzt.

Ein Versuchslabor ist nicht zuletzt auch der Landwirtschaftsbetrieb. Die industrielle Landwirtschaft ist der Hauptverursacher des Insektensterbens und damit auch für den Rückgang der Vogelwelt verantwortlich. Das Pflügen mit riesigen Traktoren bringt die Artenvielfalt im Boden zum Verschwinden. Die Böden sind ausgelaugt und müssen gedüngt werden. Dabei entstehen ebenso viele Treibhausgasemissionen wie bei der Zementherstellung.

Am Tempelhof hat dagegen gerade das achte Symposium zur Ressourcen aufbauenden Landwirtschaft stattgefunden. Tempelhof-Gärtner Stefan Schwarzer war über 20 Jahre bei UNEP beschäftigt, dem Umweltprogramm der UNO. Mit „Die Humusrevolution“ hat er ein Grundlagenwerk zum Thema geschrieben. Regenerative Landwirtschaft, Permakultur, Waldgarten, Agroforst. Beim Agroforstsystem schützen Obstbäume und Sträucher das Land vor Erosion und Austrocknung. Im Waldgarten wachsen mehrjährige Wildkräuter, die auch auf dem Mittagstisch landen und, wie ein Selbstversuch bestätigt, sehr schmackhaft sind.

In der Landwirtschaft sind einschließlich der Auszubildenden etwa zehn Menschen tätig. Die Gemeinschaft lebt überwiegend von selbst angebauten Produkten, die sie nach dem Prinzip der Solidarischen Landwirtschaft auch nach außen verkauft. Sowohl der Hofladen als auch die Kantine für den Seminarbetrieb leben vom eigenen Landwirtschaftsbetrieb. Die Ernährung ist weitgehend vegetarisch, es gibt aber auch 200 Hühner und derzeit 400 Küken, die in artgerechter Haltung zusammen aufwachsen – auch die männlichen Küken, bis sie irgendwann im Kochtopf landen.

Der Hofladen dient der Gemeinschaft als Vollversorger, auch mit zugekauften Lebensmitteln. Er vermarktet aber auch die eigenen Produkte: Obst und Gemüse ebenso wie Brot und Eingekochtes. Dreimal die Woche nachmittags geöffnet, ist er ein Treffpunkt am Eingang des Areals, wo man sich zu einem Gespräch bei einer Tasse Kaffee in die Sonne setzen kann. Mit einem Jahresumsatz von 400.000 Euro ist er – neben dem Seminarbetrieb – der Schule und der Landwirtschaft, eine der wichtigen Stützen der Tempelhof-Ökonomie.

Daneben gibt es weitere eigenständige Betriebe: Die Werkhalle ist aus einer von Hadamovsky ins Leben gerufenen Zirkuswagenwerkstatt hervorgegangen. In der Etage darüber befindet sich ein Co-Working-Space. Ein Architekt arbeitet dort, es gibt einen Babykleiderversand und, ganz neu, eine Pilzzucht, die versucht Pilze mit Vitaminen anzureichern. Die Gemeinschaft ist bunt, viele Berufe und alle Altersgruppen sind vertreten.

„Wir sind ein Abbild der Gesellschaft“, sagt Hadamovsky. Tempelhof ist keine Sekte. Es gibt Esoteriker:innen und Rationalist:innen, Spielregeln, aber kein Dogma. Zu den Themen der Welt haben die Bewohner:innen verschiedene Ansichten. Gleichzeitig besteht aber die Notwendigkeit, sich einigen zu müssen. Etwa wenn neue Bewohner:innen einziehen möchten oder wenn etwas, das die Gemeinschaft braucht, Geld kostet.

Bestes Beispiel: die Energiewende, im Moment Hadamovskys Aufgabe. Zwar sind die Häuser zumeist gut gedämmt, es sei denn das kollidiert wie beim Schloss mit dem Denkmalschutz. Doch vor Jahren hat sich die Gemeinschaft für Holzpellets entschieden, für die irgendwann auch eine CO2-Steuer droht und die jedenfalls nicht ganz so klimaneutral sind wie oft behauptet. Hadamovskys Vorschlag: mit Solarthermie einen saisonalen Speicher beheizen, der den Winter über die Wärme abgibt. Der Speicher besteht aus einer gut isolierten, zehn mal zehn Meter großen Wassergrube, nach einem in Dänemark seit Jahrzehnten bewährten Konzept. Unter den Kollektoren können weiter Pflanzen wachsen.

Ben Hadamovsky vor seinem Tiny House.

Das Aushandeln ist oft schwer

Das bedarf jedoch einer Entscheidung, die alle mittragen müssen. Die Gemeinschaft Schloss Tempelhof ruht auf einer dreiteiligen Konstruktion, die dafür sorgt, dass sie tatsächlich eine Gemeinschaft bleibt: Eine Stiftung besitzt das Land, das nicht verkauft werden darf. Ein Verein ist der Träger der Schule und der gemeinnützigen Projekte. Das zentrale Element ist die Genossenschaft, der alle angehören. Sie übernimmt die Immobilien in Erbpacht von der Stiftung und regelt alle gemeinschaftlichen Belange.

Mindestens alle zwei Wochen findet neben weiteren wöchentlichen Terminen ein mehrstündiges Plenum statt. Dazu kommen viermal im Jahr einwöchige Versammlungen. Für Entscheidungen wie bei der Solarthermie gilt ein Konsensprinzip. Abgestimmt wird nach einer sechsstufigen Skala: von dafür bis zum Veto. Bei mehr als zwei Vetos gilt der Antrag als gestoppt, bei ein oder zwei werden die Einwender:innen angehört und in eine Überarbeitung einbezogen.

Der Verein „Mehr Demokratie“ ist hier in gewisser Weise zu Haus. Roman Huber, der geschäftsführende Vorstand, lebt auf Schloss Tempelhof und hat hier sein Büro. Gemeinschaftliches Handeln kann anstrengend sein. „All leaders“ lautet ein Grundsatz der Gemeinschaft, jede:r ist Chef:in. Die Idee ist gut. Doch die Umsetzung kostet viel Mühe.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen