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GesellschaftNeuer Stöckach, altes Spiel

Im Stuttgarter Osten sollte ein Viertelmit viel Grün und wenig Autos entstehen. Das Projekt klang vielversprechend.Doch es wurde zum Exempel, wieinvestorenorientierte Stadtentwicklungscheitert, sobald sich das Geschäft nichtmehr rechnet.

Architekt und Stadtrat Hannes Rockenbauch zeigt von seinem Balkon auf das Areal, das zum „Quartier der Zukunft“ werden sollte. Foto: Jens Volle

Von Minh Schredle

Vor 100 Jahren wurden weltweit beachtete Wohnprojekte in Stuttgart mit einer Geschwindigkeit verwirklicht, die eine:n im Vergleich zur Gegenwart etwas ungläubig zurücklässt. Nach nur 21 Wochen Bauzeit konnte die Weißenhofsiedlung auf dem Killesberg bezogen werden. Das Gebäudeensemble, das als bedeutender Impulsgeber für moderne Architektur gilt, zeichnet sich durch eine radikale Zweckmäßigkeit aus: Unter Verzicht auf Ornamente war der pragmatische Minimalismus ein Mittel, gegen die Wohnungsnot vorzugehen, die auch 1927 für Probleme in der Stadt sorgte.

Allerdings waren die Bauten nicht nur kostengünstig. Es sollte zugleich die „Abkehr von althergebrachten Wohnformen“ in Beton gegossen werden, um ein „zeitgemäßes Wohnen für den berufstätigen, mobilen, gesundheitsbewussten Großstadtmenschen“ zu ermöglichen. So ist es auf der Website zur Internationalen Bauausstellung 2027 (IBA‘27) nachzulesen, wo die Weißenhofsiedlung als Vorbild dient, um erneut die Frage aufzuwerfen, ob es „wieder radikale Veränderungen bisheriger Wohntypologien, Mobilitätsansprüche und Infrastrukturüberlegungen“ braucht. Eine ganze Reihe an experimentellen Projekten im Großraum Stuttgart soll dabei Fachwissen und Kompetenzen aus aller Welt zusammenführen – doch anders als vor einem Jahrhundert geht die Umsetzung zumindest in der Landeshauptstadt selbst extrem schleppend voran.

Anfangs nahm es IBA-Intendant Andreas Hofer mit süffisanter Gelassenheit. Als etwa der IBA-Aufsichtsrat 2020 die Entwicklung eines Quartiers am Nordbahnhof in die Ausstellung aufnahm, war noch nicht bekannt, dass die Stadt dort eine Übergangsspielstätte errichten will, weil die Oper in der Innenstadt aufwändig saniert werden soll. Das Interimsgebäude wird aber nach Planungen erst ein gutes Jahr nach der IBA fertig. „Vielleicht ist aber eine große Holzbaustelle auch ein attraktives Exponat“, kommentierte Hofer im Mai 2022 gegenüber Kontext. Inzwischen ist der Tonfall deutlicher: „Die interessierte Öffentlichkeit und die Trägerschaft der IBA‘27 fragen besorgt, ob das Ausstellungsjahr 2027 noch ein Erfolg werden kann – und die IBA nicht nur Pläne, sondern auch gebaute Projekte zeigen kann“, schrieb er kürzlich mit der IBA-Geschäftsführerin Karin Lang in einem offenen Brief. Hintergrund ist die Krise der Bauwirtschaft, akuter Auslöser für den Brief der Verlust eines Aushängeschilds für die Ausstellung.

Zwischen zwei Parks im Stuttgarter Osten hat der Energieversorger EnBW seine alte Zentrale aufgegeben, noch sind hier die Stadtwerke Stuttgart Mieter, die im Oktober dieses Jahres in den Stadtteil Wangen umziehen wollen. Die Umgestaltung des frei werdenden Areals ist seit Jahrzehnten auf der Agenda der Kommunalpolitik. In Kooperation mit der EnBW sollte hier ein „Quartier der Zukunft“ entstehen, vermarktet als „der neue Stöckach“: mit einem hohen Anteil an Gemeinschaftsflächen, viel Begrünung, wenig Autos, vorbildlich bei der Klimabilanz und mit in Stuttgart so dringend benötigtem günstigen Wohnraum. Von 800 Einheiten, die hier angedacht waren, sollten 40 Prozent sozial gefördert und preiswert vermietet werden. Geschmiedet wurden diese Pläne unter Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger, deren Anregungen zum Teil tatsächlich in den Gestaltungsprozess eingeflossen sind etwa in Form eines Spielplatzes.

Auf ein Druckmittel hat die Stadt verzichtet

Doch Ende April gab die EnBW bekannt, dass sich das Projekt für sie aktuell nicht rentiert und somit erst mal auf Eis liegt. Einer, der sich dadurch in seinen Warnungen bestätigt sieht, ist der Stadtrat Hannes Rockenbauch (SÖS). „Bis hierhin war es eigentlich ein tolles Entwicklungsverfahren mit einer Bürgerbeteiligung auf einem sehr hohen Niveau, erkennt er an. „Aber am Ende ist und bleibt es eben immer ein Geschäftsmodell für die EnBW.“ Für Rockenbauch wird hier symptomatisch die große Schwäche der privatwirtschaftlich und investorenorientierten Stadtentwicklung sichtbar: Gemeinwohl und Daseinsfürsorge stehen stets unter dem Vorbehalt, dass es sich rechnen muss.

Bereits 2006 hat Rockenbauch, damals noch als Architekturstudent, an einem Antrag im Gemeinderat mitgearbeitet. „Ziel ist, den Stöckach zu einem lebendigen und attraktiven Stadtteil mit echt städtischen Strukturen und einer sozialen und kulturellen Vielfalt zu machen, in der sich die dort schon vorhandene gesellschaftliche Vielfalt erhalten kann“, heißt es darin. Im gleichen Jahr stand der Umzug der EnBW Richtung Fasanenhof an und die Stadt überlegte, die geräumten Immobilien zu kaufen. Und die „Stuttgarter Zeitung“ zitierte den Studenten Rockenbauch: „Auf keinen Fall dürfen die anstehenden Umnutzungen den Plänen privater Investoren überlassen werden.“

Letztendlich entstanden die Pläne für die Umnutzung in Zusammenarbeit mit der Stadt und ihren Bewohner:innen – doch der Einfluss auf die Umsetzung ist seitens der Kommunalpolitik beschränkt, solange der Energiekonzern Eigentümer bleibt. „Ein Druckmittel, das die EnBW zum Bau zwingen würde – etwa in Form einer vertraglichen Vereinbarung –, gibt es nicht“, sagt Rockenbauch. Nun wird nach vielen Jahren erneut darüber nachgedacht, ob die Stadt das Gebiet nicht doch kaufen sollte. Im Gemeinderat zeichnet sich eine theoretische Mehrheit dafür ab. Allerdings hat die EnBW nach aktuellem Stand keine Bereitschaft zum Verkauf signalisiert.

Stefanie von Andrian, die Leiterin des Immobilienmanagements der EnBW, glaubt „weiterhin an das Quartier als bedeutendes Projekt für die zukunftsfähige Stadtentwicklung in Stuttgart“. Die Hoffnung beruht allerdings darauf, dass sich die angespannte Situation in der Bauwirtschaft irgendwann wieder erholt und es dann lukrativ weitergehen kann. Die zwischenzeitlich eingelegte Pause solle laut von Andrian dafür genutzt werden, „die laufende baurechtliche Planung so weit wie möglich voranzutreiben“. Denn so könne „sichergestellt werden, dass das Projekt kurzfristig wieder aufgenommen und realisiert werden kann, wenn sich die Rahmenbedingungen verbessert haben“.

Planungsgewinne auf dem Silbertablett

Was außerdem hinzukommt, aber in den Stellungnahmen der EnBW unerwähnt bleibt: Aktuell handelt es sich bei dem Areal um reine Gewerbeflächen. Wenn ein Bebauungsplan daraus welche zum Wohnen macht, geht das mit einer erheblichen Wertsteigerung des Grundstücks einher. Diese Planungsgewinne, kritisiert Hannes Rockenbauch, würden in Stuttgart traditionell Investoren auf dem Silbertablett präsentiert. Ein Gegenbeispiel kann er allerdings auch benennen: Seit sich US-amerikanische Streitkräfte ab 1995 aus dem Stadtteil Bad Cannstatt zurückzogen, entstanden auf dem alten Kasernengelände 1.100 Wohnungen auf 12,7 Hektar und die Planungsgewinne kamen der kommunalen Kasse zugute.

Beim Stöckach hat die Stadt allerdings eine schlechte Verhandlungsposition. „Es gibt nicht mehr so viele größere Flächen im Herzen Stuttgarts, auf denen bezahlbarer Wohnraum in größerem Umfang entstehen kann“, führt Rockenbauch aus. Im Gemeinderat würden bebaubare Grundstücke so verzweifelt gesucht, dass es an eine Erpressbarkeit grenze. Der „theoretische Schnäppchenpreis“, zu dem sich das Stöckach-Areal als Gewerbegebiet erwerben ließe, erscheint ihm daher in der Praxis wenig realistisch.

Vor wenigen Wochen fasste der Gemeinderat den Zielbeschluss, dass es bis 2033 20.000 Wohnungen mehr in der Stadt geben soll. Nur: Wer soll sie bauen? Und wo? Bereits 2022 ist die Bautätigkeit drastisch eingebrochen. Im Vorjahr entstand, nach Abzug der abgerissenen Gebäude, ein Netto-Plus von 1.357 Einheiten. Im darauffolgenden waren es nur noch 801. Seitdem haben Inflation und Materialmangel die Hürden weiter in die Höhe geschraubt. Und eine Politik, die das „Bauen! Bauen! Bauen!“ als wichtigstes Heilmittel gegen die Wohnungsnot angepriesen hat, sieht sich nun mit einer Situation konfrontiert, in der der Mangel an Rentabilität die Bauherren aus der Privatwirtschaft verschreckt. Indessen führte Martin Körner (SPD), der Chefstratege von Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU), jüngst aus, dass es die städtische Wohnungsgesellschaft SWSG überfordern würde, Quartiere selbst zu entwickeln, da ihr dazu Personal und Geld fehlen. Eine große Mehrheit im Gemeinderat (Grüne, CDU, SPD, FDP, Freie Wähler, AfD) ist überzeugt, dass es ohne Investoren schlechterdings nicht geht.

Solide Finanzen, unsolider Wohnungsmarkt

Für die Vermögensanlage war der Immobiliensektor in den vergangenen Jahren ein Paradies mit traumhaften Renditen. Die Vonovia, in deren Behausungen mehr als eine Million Menschen leben, ist in spektakulärer Geschwindigkeit in den DAX aufgestiegen und beglückte ihre Anteilseigner:innen mit üppigen Dividenden. Den Marktwert der 20.000 Wohnungen, die das Land Baden-Württemberg 2012 für 1,43 Milliarden Euro verkaufte und die sich heute im Besitz der Vonovia befinden, bezifferte das Unternehmen kürzlich auf 3,3 Milliarden Euro. Doch nach goldrauschartigen Jahren spitzenmäßiger Einnahmen, kündigte Deutschlands größter Immobilienkonzern an, alle Neubauprojekte abzubrechen, nun, wo die Branche in den Krisenmodus übergeht.

In Stuttgart verschärft sich das Problem der mangelhaften Rentabilität im Wohnungsbau durch die Knappheit an Bauflächen. Unter Finanzbürgermeister Michael Föll (CDU) hatten ein „ordentlicher Haushalt“ und „geordnete Verhältnisse bei den Stadtfinanzen“ oberste Priorität. Tatsächlich gelang es dem Kämmerer, zu dessen Amtsantritt 2004 die Stadt mit 500 Millionen Euro in den roten Zahlen stand, Stuttgart nicht nur schuldenfrei zu machen, sondern mit üppigen Rücklagen zu polstern. Möglich war das allerdings nur, indem die Stadt etliche ihrer Grundstücke veräußerte, sodass die Gestaltungsmöglichkeiten heute eingeschränkt sind und die Stadtentwicklung leidet, wo für private Entwickler das Wirtschaftlichkeitsprinzip nicht mehr erfüllt ist.

So auch in Stuttgart-Vaihingen. Die Adler Group, deren Finanzen sich in Schieflage befinden, will den Eiermann-Campus verkaufen, ein immerhin 20 Hektar großes Areal. Geplant war hier eigentlich ein – wer erkennt die Parallelen? – „innovatives, vielfältig gemischtes und ökologisch nachhaltiges Stadtquartier“, wie es auf der Website der IBA heißt. Die fürchtet nach dem Stöckach-Aus um ein weiteres ihrer Projekte in Stuttgart.

Intendant Andreas Hofer und Geschäftsführerin Karin Lang hatten in ihrem offenen Brief gewarnt: „Das Ausmaß der veränderten Rahmenbedingungen gefährdet die Bauwirtschaft als Ganzes – insbesondere Bauträger, die bezahlbaren Wohnraum schaffen wollen.“ Gerade deswegen halten sie eine IBA aber „nicht für Luxus, sondern eine Notwendigkeit“: um Fachwissen zu Flächeneffizienz und rationalen Bauweisen zu bündeln. Dabei sei die aktuelle Zeit zwar herausfordernd und mit vielen Risiken verbunden. „Aber war das 1927 nicht ähnlich? Kurz nach dem Ersten Weltkrieg und der Hyperinflation, in turbulenten politischen Zeiten, war der Weißenhof ein wegweisendes und internationales Projekt, das den Wohnungsbau in den Folgejahren weit über die Region Stuttgart hinaus inspirierte.“ Insofern glauben die beiden noch daran, dass die Ausstellung zum Erfolg werden könnte. Das allerdings würde in der Kommunalpolitik die Bereitschaft erfordern, ausgetretene Pfade zu verlassen.

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