Geschichten aus Kreuzberg: Der Geschichtenfischer
Die "Kreuzberger Chronik" feiert die 100. Ausgabe. Niemand hätte das weniger erwartet als Verleger und Hauptautor Hans W. Korfmann. Die Jubiläumsausgabe widmet sich nun "Kreuzberg am Meer".
Vor Hans W. Korfmann liegen, ordentlich aufgereiht, lange schmale Heftchen auf dem Tisch. Sie heißen "Der Tempelhofer", "Wilmersdorfer Kiezblatt" oder "Streifen - Journal für den Prenzlauer Berg". Der Kreuzberger Korfmann lässt den Besuch mit den Publikationen aus anderen Stadtteilen allein und holt Kaffee. Die langweiligen Kiezblättchen stecken voller verstaubter Geschichten - keine Konkurrenz für Korfmanns eigenes Blatt, die Kreuzberger Chronik. Das weiß Korfmann natürlich - und haut die aktuelle Ausgabe zusammen mit dem Kaffee auf den Tisch, als wolle er sagen: "Seht her: So sieht das Original aus, alles andere sind schlechte Kopien!"
Womit er zweifellos recht hat: Die Heftchen der Konkurrenz haben das gleiche hohe Speisekartenformat, ein teilweise äußerst ähnliches Layout und das gleiche Prinzip wie die 1998 gegründete Kreuzberger Chronik: Erzählt werden Geschichten und Neuigkeiten aus der Nachbarschaft, das für die Leser kostenlose Heft finanziert sich durch Anzeigen lokaler Gewerbetreibender.
Eine Idee, auf die Korfmann zwar kein Patent hat. Trotzdem ärgert er sich über die unverfrorenen Kopien. So sehr, dass er seinerzeit aus der Gewerkschaft ausgetreten ist, weil auch die ihm nicht helfen konnte. "Es geht mir nicht um Geld", sagt er. "Sondern allein um die Ehre. Sie hätten mich einfach vorher fragen müssen." Dass keiner der Nachahmer ein persönliches Gespräch gesucht hat, ärgert Korfmann noch immer.
Der persönliche Kontakt ist das, was die Kreuzberger Chronik so besonders macht und qualitativ über die Konkurrenz erhebt: "Fast alle Gespräche ergeben sich beim Essen und Trinken", sagt der Chefredakteur, Blattmacher und Hauptautor Hans W. Korfmann zu seiner Arbeitsweise. "Über die Leute, die man kennengelernt hat, entstehen dann irgendwann einmal Porträts".
Von diesen liebevoll aufgezeichneten Begegnungen mit Originalen aus dem Bergmannstraßenkiez lebt die Chronik. Ein großes Porträtfoto ziert die Titelseite. Drinnen erfährt man, wie aus der Lokalgröße Gerhard Kerfin ein einsamer Dichter ohne Verlag wurde. Wie es den - inzwischen verstorbenen - Obdachlosen Ingo Burghardt unter das Kottbusser Tor verschlagen hat. Oder wie aus der blonden Friesin Anja Maria Smid die orientalische Tänzerin Raksan wurde.
Die Geschichten in der Kreuzberger Chronik handeln immer von Menschen. Ob es Bekannte sind wie der Comiczeichner Gerhard Seyfried oder Unbekannte wie die spanische Köchin aus der Marheinekehalle: Allen kommt Korfmann gleichermaßen nahe. Er lässt sie erzählen, ordnet die Selbstdarstellungen aber auch ein, manchmal mit sanfter Ironie. So wirken die Geschichten persönlich, aber nie betulich.
Neben den Personen werden auch Straßen und Geschäfte porträtiert, es gibt eine Reportage, einen Kommentar, eine Gastrokritik und ein literatisches Stück. Mit einigen dieser festen Rubriken gibt es inzwischen Probleme: Nach 99 Ausgaben sind kaum noch Straßen im Kiez übrig, deren Geschichte unbeleuchtet blieb. Deshalb gibt es jetzt eine neue Rubrik namens Straßen/Häuser/Höfe. Denn an unentdeckten Hinterhöfen herrscht im westlichen Kreuzberg auch in Zukunft kein Mangel. Was heikel bleibt, ist das Verhältnis der Chronik zu ihren Anzeigenkunden.
"Ich will keinen Artikel über jemanden schreiben, weil er Anzeigen schaltet", sagt Korfmann. "Genauso wenig, wie ich jemand zum Anzeigenschalten überreden will."
Die Fahrradstation, die seit dem ersten Heft treuer Kunde ist, hat Korfmann 10 Jahre ignoriert - bis ihm die Zeit gekommen schien, den traditionsreichen Fahrradladen mit einem Artikel zu würdigen. Korfmann weigert sich bis heute, einen professionellen Anzeigenakquisiteur zu beschäftigen - weil der die Kunden nur bequatschen würde.
Nötig hätte er das ohnehin nicht, die Inserenten melden sich längst von alleine, denn die Hefte gehen weg wie warme Semmeln: Spätestens zwei Wochen nach Lieferung sind die Ständer in den Geschäften leer.
Genauso wie zu den Anzeigenkunden ist Korfmann auch auf Distanz zu sämtlichen politischen Kräften im Kiez bedacht: "Wenn man wie ich dort seit zehn Jahren unterwegs ist und fast jeden kennt, ist es schwer, nicht in den Sumpf zu geraten." Den hat er bisher erfolgreich vermieden, wie er sagt.
Je länger man diesem umtriebigen Journalisten zuhört, der nebenher für die Zeit Reisereportagen schreibt und auch mal Schafhirte auf Kreta war, desto klarer wird: Korfmann selbst ist die Chronik.
Sie ist sein Projekt, obwohl sie nicht seine Idee war. Zwei Kreuzberger Buchhändler gründeten die Chronik, waren aber schon nach sechs Ausgaben vom finanziellen Misserfolg entmutigt und warfen kurz darauf das Handtuch. Korfmann, den sie für die redaktionelle Betreuung angeheuert hatten, blieb und übernahm.
Das Durchhalten hat sich gelohnt: Aus dem defizitären Kiezblättchen ist ein erfolgreiches Kleinmagazin mit 3.000 Stück Auflage geworden, von dem Korfmann, Layouter, FotografInnen und AutorInnen bezahlt werden können.
Korfmann macht nicht mehr alles selbst, aber immer noch viel: Er verteilt die Zeitschriften auf dem Fahrrad, kümmert sich um neue Anzeigen, neue Themen, neue Geschichten. Viele von ihnen schreibt er selbst, unter den verschiedensten Autorenpseudonymen. Einer davon ist der scharfe Gastro- und Gesellschaftskritiker Michael Unfried. "Mein Name für Unbequemes" nennt ihn Korfmann. Trotzdem soll nicht alles beim Alten bleiben. Mit der Nummer Juni 2008 hat sich Korfmann von seinem alten Grafikbüro getrennt - um das Layout kümmert sich jetzt Mare-Gründerin Claudia Bock. Das Ergebnis: ein aufgeräumteres, moderneres Heft mit größerer Schrift. Aus Rücksicht auf das Alter der Leser, die Korfmann "im Bereich 40 Plus" vermutet. Der Cartoonist Kriki steuert einen regelmäßigen Tresencomic bei, für die Hassliebe-Kolumne "Mein liebster Feind" konnten mit Ex-tip-Chef Karl Hermann und dem Lesebühnenautor Dr. Seltsam zwei ehemalige Kindheitsfreunde gewonnen werden. Das Heft im neuen Gewand, sagt Korfmann, sei für ihn "wie ein Geburtstag" gewesen.
Gewissermaßen als Geburtstagstorte will der Kreuzberger Chronist im September in seinem Hinterhof am Mehringdamm alle Menschen versammeln, die bisher das Titelbild der Chronik geziert haben. Darunter auch seine Freundin Michaela Prinzinger, die am Mehringdamm ihr Übersetzeratelier hat und der er im Juni die Titelgeschichte gewidmet hat. Ganz bestimmt nicht nur, weil sie seine Freundin ist: Die österreichische Literaturwissenschaftlerin übersetzt Werke aus dem Griechischen und arbeitet "beratend" an der Chronik mit.
Außerdem kann man mit der Burgenländerin gut essen und trinken. Dabei könnte die Idee für die Jubiläumsausgabe entstanden sein: "Kreuzberg am Meer". Vielleicht auch ein Seitenhieb auf die vielen sich mediterran gebenden Gastrobetriebe, die sich in der Bergmannstraße stetig vermehren. Dort, klagt Korfmann, seien die originellen Typen rarer gesät als in den alten Kleinbetrieben und Kramläden von früher.
Der Geschichtenfischer vom Mehringdamm muss immer mehr auf Seitenstraßen ausweichen oder nach 36, ins östliche Kreuzberg. Manchmal aber genügt schon der frische Blick einer jungen Autorin wie Saskia Vogel, die in einem Sushi-Laden eine Geschichte fand. Für "abgegrast" hält Korfmann seinen Kiez noch lange nicht. "Wenn sich die Gegend verändert, muss sich auch der Blick verändern", sagt er.
Denn eins soll sein Magazin nie werden: eine dieser verstaubten, vor Nostalgie strotzenden Chroniken, wie sie in anderen Stadtteilen herumliegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben